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- Recht auf Schwangerschaftsabbrüche
Abtreibung als unvermeidbare Realität
IN SCHLECHTER GESELLSCHAFT: Das Recht auf Abtreibung alleine ist unzureichend, meint Sibel Schick.
Das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche war in Polen ohnehin eins der strengsten in Europa. Vergangene Woche wurde es weiter verschärft. Das neue Gesetz streicht das Abtreibungsrecht bei Fehlbildung des Fötus, weil das gegen den verfassungsrechtlich verankerten Schutz des Lebens verstoße.
In einer Welt, in der ständig diskutiert wird, unter welchen Bedingungen Schwangere abtreiben dürfen, entsteht die verzerrte Wahrnehmung, dass Abtreibungen etwas seien, das man rechtfertigen müsse. Diese Rechtfertigung geschieht bei kriminologischen Indikationen sowie Vergewaltigungen dadurch, dass schwangere Personen zum Opfer erklärt werden. Bei pränatalen Tests, also medizinischen Indikationen, geht es darum, welche Leben schützenswert sind. Indem ein Verzicht auf pränatale Tests als verantwortungslos deklariert wird, werden Schwangere unter Druck gesetzt, bei Normabweichungen abzutreiben. Das beruht auf ableistischen (behindertenfeindlichen) Vorstellungen, skandalisiert wird es aber nicht.
Dass es den selbst ernannten »Lebensschützern« weder um Leben noch um Schutz geht, versteht sich von selbst: Wer ein ehrliches Interesse hat, Menschenleben zu schützen, setzt sich für sichere und legale Abtreibungen ein. Verbieten heißt nämlich nicht verhindern: Weltweit sterben jährlich etwa 200 000 Menschen an den Folgen illegaler oder selbst durchgeführter Abtreibungen. Länder mit liberalen Abtreibungsgesetzen haben auch die wenigsten Schwangerschaftsabbrüche.
Bei gesetzlichen Verboten geht es vor allem darum, ein falsches Gerechtigkeitsverständnis durch Strafen durchzusetzen. Dem mit Forderungen auf einer rein rechtlichen Grundlage entgegen zu kommen, bringt weitere Konflikte mit sich: Wenn Abtreibung nur ein Recht ist, bleibt das Entscheidungsmonopol beim Staat. Rechte können nämlich wieder genommen werden. Abtreibungen sollen aber für immer legal bleiben – und nicht nur bis die nächste Regierung kommt.
Ein Recht auf Abtreibung alleine ist auch deshalb unzureichend, weil die rechtliche von der gesellschaftlichen Lage nicht trennbar ist. Wenn Abtreibungen gut begründet werden müssen, nur medizinische oder kriminologische Indikationen als gute Gründe dienen und die Verantwortung der Verhütung vor allem in heterosexuellen Beziehungen zwischen cisgeschlechtlichen Menschen bei jenen, die schwanger werden können, hängen bleibt, werden ungewollt Schwangere als verantwortungslose, unfähige und vor allem herzlose Hedonist*innen und als Mörder*innen behandelt, sobald sie abtreiben möchten. Bei dem Schutz der Schwangeren geht es nicht nur um den Zugang zu sicheren Abtreibungen, sondern auch um den Schutz vor Stigma und psychischer Gewalt.
Die Zwickmühle von »Fötus gegen Schwangere« erweckt den Eindruck, als ginge es um zerstörerische Erzfeinde. Diese Dichotomie setzt die Diskussion in einen moralischen Rahmen, in dem darüber gestritten wird, wer mehr zählt: der Fötus oder die schwangere Person? Das macht den Themenkomplex mit all seinen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Missständen unsichtbar. Außerdem bildet das keine Diskussionsgrundlage, weil wir keinen moralischen Konsens finden müssen. Abtreibungen, die unvermeidbar sind, finden statt, egal welche Gesetze verabschiedet werden – und genau mit dieser Realität müssen wir umgehen. Wir dürfen uns nicht in die Gefangenschaft der Machthaber-Rhetorik, wann ein Fötus ein Leben ist, begeben. Darauf müssen wir uns nicht einlassen.
Auch konservative und religiöse Menschen haben ein Interesse daran, nicht in dreckigen Kellern zu verbluten. Wer darf leben und wer nicht – diese Frage sollte nicht der Staat beantworten. Den Vertrag müssen wir miteinander schließen. Indem wir Kinder aufklären, die Verantwortung für Verhütung und Erziehung gleich aufteilen und Ressourcen zur Verfügung stellen. Vor allem müssen wir Abtreibungen als unvermeidbare Realität akzeptieren, denn genau das sind sie, auch wenn sie verboten werden. Von der Wirtschaft bis hin zur Wissenschaft müssen wir eine neue Kultur aufbauen, in der wir die Verantwortung der Verhütung und Reproduktion gesamtgesellschaftlich übernehmen. Das ist auch heute schon der Fall – mit dem einzigen Unterschied, dass nicht alle zu ihrer Verantwortung stehen.
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