Opfer erster Klasse und die anderen

Die Debatte über ein »Polendenkmal« in Berlin zeigt, wie heutzutage Leidtragende der NS-Zeit instrumentalisiert werden

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.

Er habe seine Totenkopfverbände bereitgestellt »mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken«, betonte Adolf Hitler eine Woche vor dem Angriff auf Polen. Nur so, betonte der Führer aller deutschen Völkermörder, »gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen«. Laut Nazi-Ideologie waren Polen ohnehin »minderwertig«, nur tauglich zum Unterwerfen. Mehr als fünf Millionen polnische Staatsbürger kamen zwischen 1939 und 1945 unter deutscher Besatzung um. Sie starben durch Terror, im Widerstand oder wurden - wie vor allem jüdische Bürger - Opfer planmäßiger Massenmordaktionen.

Spät genug hat sich der Bundestag jüngst für ein Zentrum zur Aufarbeitung der deutschen Besatzungen während des Zweiten Weltkrieg ausgesprochen. Die Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte soll Informationen bieten, historische Zusammenhänge vermitteln und über geschehenes Leid in Europa sowie in Deutschland aufklären. Einzig die AfD-Fraktion verweigerte sich und sprach von »Erinnerungswahn«.

Am Freitag soll auf Antrag der Regierungsfraktionen darüber hinaus beraten werden, wie Deutschland »mit einem eigenen Ort des Erinnerns und der Begegnung dem besonderen Charakter der deutsch-polnischen Geschichte mit dem Tiefpunkt der deutschen Besatzung in Polen gerecht werden und zur Vertiefung der deutsch-polnischen Beziehungen beitragen« kann.

Es sei gut, dass nach Jahrzehnten des Verschweigens die deutschen Verbrechen im Rahmen des NS-Vernichtungskrieges im Osten auf die Tagesordnung des Parlaments kommen, erklärte Jan Korte, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, gegenüber »nd«. Wie das jedoch geschieht, sei beschämend. »Wer sich dafür nur eine halbe Stunde Debattenzeit nimmt, der zeigt, wie sehr er dem Charakter der deutsch-polnischen Geschichte tatsächlich gerecht werden und zur Vertiefung der besonderen bilateralen Beziehungen beitragen will.«

Korte hält den Antrag der Koalition »in mehrfacher Hinsicht für problematisch«. Union und SPD sprechen von einer »unvergleichlichen Versöhnungsgeschichte«, die sich wenige Jahre nach Kriegsende entwickelt hätte. Kein Wort gebe es zum Geschichtsrevisionismus und Revanchismus der Bundesrepublik, keines zu Vertriebenentagen unter dem Motto »Schlesien bleibt unser!«, an deren Teilnahme der damalige Kanzler Helmut Kohl nur mit Mühe gehindert werden konnte. Kein Wort auch zur jahrzehntelangen Weigerung der BRD, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen, die für die DDR selbstverständlich war.

Man wolle, so hört man auf Regierungsseite, Polen als erstes und besonderes Opfer der Nazis würdigen. Doch sei es Warschau nicht zuzumuten, gleichberechtigt in einer Reihe unter anderem mit Wladimir Putins Russland zu stehen. Auch wenn man schwerwiegende aktuelle Divergenzen zwischen einst okkupierten Nationen einbezieht - kann es angehen, Opfern deutscher Gewaltpolitik unterschiedliche Bedeutung zuzuweisen?

Der Begriff »Opferkonkurrenz« macht die Runde. So erkennt Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Berlin, in dem Polen-Denkmal »einen gefährlichen Präzedenzfall der Hierarchisierung der NS-Opfer« und fordert seinerseits ein Denkmal für die fünf Millionen zivilen Opfer, darunter 1,5 Millionen Juden, die von den Nazis in der Ukraine umgebracht wurden. Es sei »enttäuschend«, dass der Bitte nicht entsprochen wird.

Der Diplomat argwöhnt, Polen wolle offensichtlich eine Monopolstellung als »Hauptopfer« des Zweiten Weltkrieges anstreben. Der Gedanke ist nachvollziehbar, liest man einen Brief, den Melnyk vom polnischen Kollegen Andrzej Przylebski erhielt. Undifferenziert und extrem nationalistisch wirft der den Ukrainern prodeutsche Mittäterschaft vor, korrigiert Opferzahlen und betont, dass die Nachbarn doch wesentlich mehr unter den Sowjets gelitten hätten.

Auch so spiegeln sich - historisch unterlegt - aktuelle Widersprüche nicht nur im Verhältnis dieser beiden osteuropäischen Staaten wider. Die Warschauer Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« nennt Przylebski einen »dilettantischen und schädlichen Botschafter«. Dem mag man zustimmen, doch damit erledigt sich die ehrliche Auseinandersetzung zum Thema in Deutschland noch lange nicht.

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