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Die ukrainische Babysitterin
Die Übernahme amerikanischer Rassismusdiskurse kann Europas Linke blind machen
Eine der erfolgreichsten französischen Familienserien heißt »Fais pas ci, fais pas ca«. Es geht um zwei bürgerliche Familien in einem wohlhabenden Pariser Vorort: die spießigen Lepics und die etwas unkonventionelleren Bouleys. Die Serie hat eine vage linksliberale, grüne Moral. So werden auch immer wieder Vorurteile verhandelt. Einmal etwa lernen die Lepics, die Homosexualität ihrer Tochter zu akzeptieren - am Ende nimmt die bei der Stadt beschäftigte Mutter eigenhändig die erste lesbische Trauung des Ortes vor! In einer anderen Episode zieht ein Schwarzer in die Nachbarschaft. Den Bouleys macht das eine verdruckste Angst, den Lepics eine ganz offene. Doch erweist sich der Mann als nett und anständig - man schämt sich ein wenig des Vorurteils und hat verstanden.
Es gibt aber auch eine Episode, in der die Bouleys im Netz eine ukrainische Babysitterin bestellen. Es kommt nicht die junge, hübsche, sympathische Frau von den Fotos, sondern eine hässliche Person ohne Manieren, auch etwas schwer von Begriff. Ihr Körpergeruch ist quasi das Hauptthema der Folge. Betritt sie das Zimmer, verdreht die Familie den Kopf. Und weil sie kein Französisch versteht, sondern sich in rauen Kehllauten ausdrückt, lästert man in ihrer Gegenwart: Was Dusche, Zahnbürste und Shampoo sind, das versteht sie nicht, die Barbarin aus dem Osten. Sie stopft sich mit fettigem Fraß voll und rülpst durch die Wohnung. Nun erwartet man die pädagogische Wendung, dass also die Ressentiments zerplatzen und die Familie ihr Verhalten reflektiert. Doch nichts dergleichen: Am Ende setzt Vater Bouley die Frau auf der Straße aus. Alle sind erleichtert, Ende und Abspann: ein auf 50 Minuten gedehnter rassistischer Witz, ungebrochen und unkommentiert. In einer Serie, die sonst fast mit dem Holzhammer auf Demokratie, Toleranz und Verständnis pocht.
Fabian Lehr, Jg. 1987, lebt als linker Publizist in Wien. 2017 erschien sein Buch »Der Bauernkrieg: Antifeudale Revolution in Deutschland«; er schreibt für verschiedene Online-Medien. Der nebenstehende Text ist ein stark gekürzter und überarbeiteter Beitrag, der zuerst auf dem Blog designing-history.world erschienen ist.
Das Seriendrehbuch erkennt also den - nicht nur - in Frankreich grassierenden Rassismus gegen Schwarze und problematisiert diesen. Es ist aber ist zugleich offenbar blind für den Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa. Woher kommt diese Diskrepanz?
Die Serie arbeitet auf Basis von Rassismusdiskursen aus dem US-amerikanischen Linksliberalismus, die seit den 1970ern, besonders aber in jüngsten Jahren auch in Europa prominent geworden sind.
Dass in diesen Diskursen Rassismus als Unterdrückung schwarzer, farbiger und indigener Menschen - »BIPoC« - durch Weiße bestimmt ist, ergibt sich aus der Geschichte der USA. Diese ist zutiefst davon geprägt, dass Sklavenhalter und der Staat der Weißen Millionen Schwarze direkt versklavten oder - nach 1865 beziehungsweise in den Nordstaaten - gesetzlich und sozial scharf diskriminierten, während ein schleichender Genozid an den Indigenen stattfand. Dieser Staatsrassismus bildete über Jahrhunderte die ökonomische Basis des halben Landes. Zugleich war er das einigende Band einer weißen Mehrheitsgesellschaft, die ihrerseits aus Dutzenden Ethnien bestand: Noch die ärmsten sprachunkundigen Eingewanderten aus Polen oder Deutschland - und am Ende auch aus zeitweise stigmatisierten Ländern wie Irland oder Italien - konnten »richtig amerikanisch« werden. Schwarzen aber war das auch nach zehn Generationen nicht vergönnt. Schon in den 1830ern beobachtete Alexis de Tocqueville in seinem Klassiker »Über die Demokratie in Amerika«, dass die Unterdrückung der Schwarzen und die Abgrenzung von diesen Voraussetzung war für die Demokratie und relative Egalität unter den Weißen, die das damalige Europa so sehr erstaunte. Aus dieser Geschichte ergibt sich folgerichtig, »Rassismus« und »Unterdrückung von Schwarzen durch Weiße« als mehr oder minder synonym zu behandeln.
In Europa sind die Verhältnisse aber anders. Gewiss ging der Kolonialismus von Europa aus, er war Bedingung wie Folge der Durchsetzung des Kapitalismus. Unübersehbar päppelte sich Europas Kapital im Kolonial- und Versklavungsgeschäft - und rechtfertigten im Imperialismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rassistische Theorien die kolonialen Raub- und Unterwerfungskriege. Doch im empirischen Massenbewusstsein spielten schwarze Menschen bis weit ins 20. Jahrhundert kaum eine Rolle, weil es in Europa sehr wenige gab.
Zwar können - siehe Judentum - auch kleine Gruppen prominente Zielscheibe von Massenideologien sein. Doch prägte die Diskriminierung der wenigen Schwarzen, die es vom 18. bis ins frühere 20. Jahrhundert in Europa gab, dessen Gesellschaften nicht ernstlich. Schwarze und Indigene waren nicht alltagspräsent, sondern vage bekannte Fabelwesen. Nirgends war im Alltagsleben innerhalb der europäischen Kolonialmächte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts »Schwarze gegen Weiße« ein zentrales Feature des Massenbewusstseins - anders als in den USA.
Sklavenmarkt in Magdeburg
In Europa zielte jene Logik von Zusammenhalt durch Ausgrenzung auf andere Gruppen, zuerst auf das Judentum. Antisemitische Mobilisierungen und Pogrome gibt es vom Hochmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Der Holocaust war ein deutsches Projekt, stieß aber auf viel Kolloaborationswillen: Der deutsche Vernichtungsantisemitismus stiftete selbst in deutsch besetzten Ländern für Momente eine Einheit durch Ausgrenzung - freilich eine widersprüchliche. Denn fraglos ist für den westeuropäischen, zumal deutschen Rassismus die Abgrenzung gegenüber der slawischen Welt zentral.
Schon im Hochmittelalter gab es ein florierendes deutsches Versklavungsgeschäft - mit polnischen, sorbischen, litauischen und böhmischen Menschen. Man fing diese östlich der Elbe und handelte sie auf großen Sklavenmärkten, etwa in Magdeburg. Im Zuge der »Ostkolonisation«, die von der Weimarer Rechten und dem NS glorifiziert wurde, unterwarfen Söldnerbanden zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert die Bevölkerungen von der Elbe bis Estland. Diese - etwa die Pruzzen, die Preußen den Namen gaben, oder die Obodriten in Mecklenburg-Vorpommern - wurden zwangsbekehrt und teils ausgerottet. Deutsche, westliche Siedlungen füllten die menschenentleerten Gebiete. Berlin, Rostock und Dresden sind slawische Gründungen, erst seit dem Hoch- beziehungsweise Spätmittelalter »deutsch«.
Auch in der Moderne bis 1917 - und seit 1990/91 wieder - nehmen die Länder Osteuropas gegenüber »dem Westen« die Rolle von Semikolonien ein. Ihre Menschen sind im Massenbewusstsein weiter als wild, primitiv und zurückgeblieben stigmatisiert. In der »westlichen« Literatur zumal des 19. Jahrhunderts wurden sie unablässig karikiert und verhöhnt. In Deutschland werden Menschen aus Osteuropa das erste Arbeitskraftreservoir, das der Kapitalismus anzieht. Nicht erst heute wird die saisonale Drecksarbeit auf den Feldern und werden die miesesten Fabrikjobs von Menschen »aus dem Osten« verreichtet - schon im Wilhelminismus war das so. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg gibt es hierzulande rund eine Million solcher Billigkräfte, die in der Presse verleumdet werden: Faul seien sie, dumm und versoffen, heißblütig, gewalttätig, kriminell und gefährlich, stets auf der Jagd nach deutschen Frauen, kaum integrierbar - und so weiter, es klingt vertraut.
Der Erste Weltkrieg ist auch der Versuch des deutschen Imperialismus, ein Kolonialreich im Osten zu erobern. Im Zweiten Weltkrieg ist es dann das Hauptprojekt, in Russland, Polen, der Ukraine und anderswo Millionen zu ermorden und den Rest in versklavungsähnliche Verhältnisse zu zwingen. Antislawischer Rassismus wird Staatsdoktrin, Traktate über die »Untermenschen« aus dem Osten sind Schullektüre, Millionen werden in Zwangsarbeit verschleppt. Zwar scheitern Hitlers Pläne, aber im Schatten des Antikommunismus wird dieser himmelschreiende antislawische Rassismus nie »aufgearbeitet«. Wer im Deutschland oder Österreich noch der 1990er aufgewachsen ist, kennt Witze über klauende Polen, versoffene Russen und den gewalttätigen Osten als präsenteste Form von Rassismus. Noch heute sind solche Sprüche wirtshauskompatibel - neben dem Antiziganismus, der weiterhin grassiert.
Dieser Rassismus, der derzeit etwa auf eine rumänische oder bulgarische »Einwanderung in die Sozialsysteme« zielt, hat in Westeuropa und besonders in Deutschland eine jahrhundertelange Tradition. In ihm bilden sich die Grundfiguren rassistischer Ausgrenzung, die ab den 1960ern und verstärkt in jüngeren Jahren auf etwa die türkische Arbeitsimmigration übertragen werden - wobei sich hier mit der Religion noch ein zusätzlicher Aufhänger bietet.
Im europäischen »Westen«, besonders aber in Ländern wie Deutschland oder Österreich, wo antislawischer Rassismus einmal Staatsdoktrin war und noch immer mehrheitsfähig ist, zielen US-amerikanische Sprachregelungen wie »BPoC« oder auch »BIPoC« - »Black and Indigenous People of Color« - zur Beschreibung der Zielscheiben des Rassismus ein Stück weit daneben. Während diese Begriffe die Verhältnisse der USA und teils auch in Südamerika treffen, wo ein auf Sklaverei basierender europäischer Siedlungskolonialismus und der damit verbundene Genozid an den Indigenen bis heute auch geografisch sichtbar sind, ist in Deutschland eher der Antislawismus »strukturell«: in Form etwa des typisch »ostelbischen« Großgrundbesitzes, der mit jener Besiedlungsgeschichte in Verbindung steht.
Wie BIPoC sind die Jenischen?
Gewiss soll »Black« - mit großem »B« - im US-Diskurs nicht nur beschreiben, dass jemand dunkle Haut hat, sondern allgemein sozial diskriminierte Gruppen. Man kann also »Schwarz« sein, aber nicht dunkelhäutig. Doch reicht diese Differenzierung, um jene Gegenüberstellung von »BIPoC« und »Whiteness« als rassistische Grundkonstellation sinnvoll nach Europa zu importieren?
Hiergegen lassen sich drei Einwände vorbringen. Erstens werden auf dieser Art einige besonders virulente Formen des europäischen Rassismus begrifflich verfehlt - etwa der Antisemitismus, der in den USA niemals eine derart prominente Rolle gespielt hat wie in Europa. Denn auch im Sinne des großen »B« ist das Judentum nicht »Schwarz«: Der Antisemitismus unterscheidet sich von den allermeisten anderen Formen des Rassismus dadurch, dass seinen Opfern gerade keine kulturelle Unterlegenheit oder Primitivität zugeschrieben wird, sondern im Gegenteil eine heimtückische Überlegenheit, Raffinesse, sagenhafter Reichtum und hintergründige Macht. Mit einem Konzept, das »white privilege« als den Ausgangspunkt von Rassismus setzt, ist diese Massenideologie einfach nicht zu fassen.
Zweitens lässt sich noch so oft erklären, dass »Schwarz« eine soziale Stellung beschreibe und nicht zuerst eine Hautfarbe - die Allermeisten werden es trotzdem gerade in diesem Sinn verstehen. So aber passt eine Polin, ein Rumäne oder eben jene Ukrainerin aus der französischen Serie nicht in das Raster. Diese Menschen unterscheiden sich optisch kaum oder wenig von der Mehrheit, sind aber dennoch von massiver, manchmal lebensbedrohlicher rassistischer Diskriminierung betroffen. Eine Vorstellung, die Rassismus als »Diskriminierung armer Dunkelhäutiger durch wohlhabende Hellhäutige« fasst, beschreibt in Europa nur eine bestimmte Facette des Rassismus.
Drittens scheint diese Terminologie eine ungute Naturalisierung mitzubefördern. Eine Definition des Rassismus als »Antagonismus zwischen Schwarzen und Weißen« suggeriert unterschwellig, Rassismus sei überhistorisch einfach da, wo hellhäutige und dunkelhäutige Menschen aufeinandertreffen. Es gibt Rassismus aber nur in einer Gesellschaft, in der ethnische Sortierung den Bedürfnissen einer herrschenden Klasse dient. Diese Hierarchisierung ist je nach Gegebenheit beliebig, selbst innerhalb nationalstaatlicher Grenzen. Die Rechte des italienischen Nordens lebte lange primär von rassistischer Abwertung Süditaliens. John Steinbecks »Früchte des Zorns« beschreibt, wie im Kalifornien der 1930er Rassismus gegen weiße Zugewanderte aus Oklahoma wütete.
Rassismus ist Ausdruck einer von der Barbarei der Klassengesellschaft gezüchteten Wahnvorstellung. Er folgt nicht aus Beobachtung von Wirklichkeit und braucht keine auffallenden physischen Unterschiede. Er ist ein soziales Verhältnis, das mit biologischen Unterschieden legitimiert wird - oft aber auch nicht. Der liberale Antirassismus US-amerikanischen Zuschnitts läuft Gefahr, eine bestimmte Form, die der Rassismus unter spezifischen Bedingungen angenommen hat, zu dessen Essenz zu erklären - ob »schwarz« mit großem »S« geschrieben wird oder nicht.
Diese Feststellung redet nicht den Rassismus gegen Schwarze im »Westen« und auch Deutschland seit dem späteren 20. Jahrhundert klein. Doch droht, wenn mit dem rassismuskritischen Vokabular aus den USA gleich auch deren Historie »übernommen« wird, ein Vergessen der hiesigen Geschichte der Ausgrenzungen: Die wenigsten wissen wohl zum Beispiel, was Jenische sind. Wer sich für antirassistisch belesen und sensibel hält, das aber nachschlagen muss, bewegt sich fast schon auf dem Felde derer, die jene Episode um die Babysitterin verantwortet haben.
Wäre, apropos, ein solcher 50-Minuten-Slur auch hierzulande möglich? Man denke an »Katja Kreml«, die vom deutschen Fernsehen 2018 zur Fußball-WM in Russland ersonnen wurde und seither in klischeenaher Kleidung mit künstlich betontem Akzent durch Satireformate geistert. Ohne der selbst in der UdSSR geborenen Darstellerin zu nahe zu treten: Eine solche Kunstfigur würde sofort als problematisch erkannt, wenn schwarze oder arabische Menschen in dieser Weise karikiert würden. Und scheint doch unproblematisch, wenn sie antislawische Stereotype bedient.
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