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Risse im Rahmen
Über den neuen Antirassismus in den USA - nach Obama, Trump und Corona
Kritische amerikanische Geschichtslehrer mögen sich gefreut haben. Es hat sich wohl doch gelohnt, sich seit Jahr und Tag mit desinteressierten Schulklassen herumzuschlagen! Die »linken Krawalle« der letzten Monate, so nämlich jüngst Präsident Donald Trump bei der von ihm einberufenen »White House Conference on American History«, seien das »direkte Resultat von jahrzehntelanger linker Indoktrination in unseren Schulen«. Er werde eine Kommission einberufen, die eine erbaulichere Geschichtsschreibung entwerfen soll. »Patriotische Mütter und Väter verlangen, dass ihre Kinder nicht länger mit hasserfüllten Lügen über dieses Land gefüttert werden.«
Diese »1776-Kommission« richtet sich ausdrücklich auch gegen das »1619 Project« - eine Sonderausgabe des Magazins der »New York Times«, die das Erbe der Sklaverei und den fortdauernden Rassismus in den USA thematisierte. 400 Jahre nach der Ankunft der ersten Versklavten erschienen, erhielt das Projekt einen Pulitzer-Preis und wurde an etlichen Schulen Unterrichtsmaterial - sowie Hassobjekt der Rechten: Ein »Kreuzzug gegen die amerikanische Geschichte«, giftete Trump. Und sein Außenminister Mike Pompeo ätzte, die KP Chinas müsse sich über die »Verleumdung unseres großartigen Volkes« gefreut haben.
Seit Jahren betreiben die Republikaner eine Identitätspolitik, die immer offener die Vormachtstellung weißer Christen verteidigt. Ihr Feind sind nicht nur Linke und Liberale, sondern auch die Realität: In den USA könnte es bald keine weiße Mehrheit mehr geben. So werden die »Minderheiten« selbstbewusster. Nikole Hannah-Jones, federführende Journalistin des »1619 Project«, nennt dieses den Versuch, das schwarze Amerika gleichberechtigt in die Nationalgeschichte einzuschreiben.
Einigung auf Stars and Stripes
In ihrem Essay schildert sie, wie sie einmal als Schülerin aufgefordert worden war, die Flagge ihres »Herkunftslandes« zu malen. Doch anders als die weißen Kinder in der Klasse hatte sie nicht die geringste Ahnung, woher ihre afrikanischen Vorfahren stammten. »Heute wünsche ich mir«, schreibt sie, »dass ich zu meinem jüngeren Ich zurückkehren und ihr sagen könnte, dass ihre Vorfahren hier aus diesem Land stammen und dass sie kühn und stolz die Sterne und Streifen« malen solle. Die Botschaft ist klar: Die Nachfahren der Sklaven sind keine marginale Minderheit, sie sind sogar amerikanischer als viele weiße Männer wie etwa Donald Trump, dessen Vorfahren erst vor 100 Jahren in die USA kamen. Niemand habe »einen größeren Anspruch auf diese Flagge (...) und Patriotismus« als das schwarze Amerika - hätten doch dessen »idealistische, patriotische Bemühungen« die amerikanische Demokratie erst zu dem gemacht, was sie heute darstelle.
Dieser ostentative Patriotismus ist typisch für US-Liberale, was die rechte Reaktion noch bizarrer macht. In dieser Haltung spiegelt sich eine Art Konsens, der bis in die Zeit von Barack Obama den Konflikt deckelte: Man war, auch auf republikanischer Seite, gegen expliziten Rassismus - zumindest offiziell. Das gelang in einer Einigung auf die Fahne, auf das Freiheitsversprechen der US-amerikanischen Mythologie. Diese Sprachregelung sorgte für Frieden, kehrte aber aber auch unter den Teppich, dass weiße Christen weiterhin das »Kernvolk« ausmachten - und dass rassistische Benachteiligung zwar nicht mehr offiziell befördert wurde, sich aber dennoch fortsetzte.
Während Obamas Amtszeit erreichte dieser Formelkonsens nun einen Kipppunkt. Zuerst radikalisierten sich die Konservativen, schon angesichts eines schwarzen Präsidenten mit Mittelnamen Hussein. Sie waren nie wirklich bereit, die nationale Bühne zu teilen - und die Person Obamas zwang sie quasi zum Schwur. Als dieser 2012 wiedergewählt wurde, brachte der Fox-News-Moderator Bill O’Reilly die Stimmung der Rechten auf den Punkt. Das »traditionelle Amerika« verschwinde, Schwarze und Latinos ließen sich mit Wohltaten ködern: »Sie wollen Sachen haben. Und wer gibt ihnen das? Präsident Obama.«
Doch jener alte patriotische Formelkonsens, der die USA noch durch den Schock von 2001 getragen hatte, wurde während Obamas Amtszeit auch von der anderen Seite aufgekündigt: durch die 2013 entstandene Black-Lives-Matter-Bewegung. Mächtiges Symbol der Weigerung, sich weiter vom vagen Versprechen der Stars and Stripes abspeisen zu lassen - und der Rechten deshalb so tief verhasst -, war die Geste des afroamerikanischen Sportstars Colin Kaepernick, der nicht mehr für die Flagge stehen wollte. Rassistische Polizeigewalt war hier der Anlass, doch der Nährboden war auch eine Desillusionierung mit dem vorsichtigen Liberalismus à la Obama. Dieser hatte große Hoffnungen geweckt, am Ende aber nicht viel mehr zu bieten als Selbsthilfepredigten, die jenen alten patriotischen Konsens gegen den expliziten Rassismus bedienten. Nun aber wird dieser zunehmend durch einen »aktiven« Antirassismus ersetzt. Der Essayist Ta-Nehisi Coates ist dabei ein wichtiger Stichwortgeber im liberalen Mainstream; in einem viel diskutierten Text fordert er »Reparationen« für die Sklaverei. Einflussreich ist auch die Botschaft des Politologen Ibram X. Kendi. Es reiche nicht, »nicht rassistisch« zu sein - wer nicht aktiv im Alltag gegen Benachteiligung vorgehe, sei ein Komplize.
Diese offensivere antirassistische Haltung ist im liberalen Mainstream bemerkenswert verankert. Während der Proteste im Sommer 2020 führten rassismuskritische Bücher wie die von Ibram X. Kendi die Bestsellerlisten an. Die Spitzen der demokratischen Partei traten mit afrikanischen Schals auf und knieten à la Kaepernick für die Kameras. Selbst Joe Biden, der in seinem langen Politikerleben allerlei einschlägig Fragwürdiges losgelassen hat, machte sich den Slogan »I can’t breathe« zu eigen - die letzten Worte des Afroamerikaners George Floyd, der im Mai bei einem brutalen, rassistisch motivierten Polizeieinsatz erstickte. Das zeigt allerdings auch, wie leicht dieser Antirassismus vereinnahmt werden kann. Weil die Bewegung wenig organisatorische Ressourcen hat, Forderungen klar zu konturieren und durchzusetzen, gibt es wenig konkrete Resultate: Die Forderung »Defund the Police« - also der Polizei radikal Ressourcen zu entziehen - wurde fast nirgends umgesetzt.
Bisher bewegt sich aber auch jener neue, offensivere Antirassismus noch immer in einer liberalen Rahmung: Individualisierend und moralisierend werden - auch in großen Medien - die Menschen aufgefordert, in sich zu gehen. Das kann die weiße Mittelschicht und die liberale Politik leicht aufgreifen, denn es kostet nichts. Oft scheint es geradezu, dieser Diskurs diene dem schlechten Gewissen jener weißen akademischem Mittelschicht, die sich durch »richtiges Verhalten« mit ihrem Stand versöhnen kann.
Von 1619 zu 2020
Andererseits ist nun schon länger viel vom »strukturellen Rassismus« die Rede, also von einer systematischen, institutionalisierten Marginalisierung. Bisher findet sich unter diesem Stichwort selbst bei Autoren wie Ta-Nehisi Coates oder im »Project 1619« erstaunlich wenig Klarheit darüber, dass jene systematische Benachteiligung zu einem Großteil daher rührt, dass Afroamerikaner und People of Color in der Geschichte der USA in eine bestimmte Klassenposition gedrängt wurden - und demnach eine Überwindung des strukturellen Rassismus auch kaum zu haben ist, ohne die Klassenstruktur anzutasten.
Nun aber zeigt Corona, was struktureller Rassismus ist: People of Color sind ja deswegen so überproportional betroffen, weil sie an Einkommensarmut leiden, schlechtere Gesundheitsversorgung haben, beengt wohnen und Jobs ohne Chance auf Homeoffice ausüben, die oft nicht einmal bezahlte Krankheitstage kennen: So offenkundig ist die soziale Selektivität des Virus nicht durch Selbstreflexion, nicht durch Repräsentationspolitik und auch nicht durch »Diversität« in Firmenzentralen zu stoppen, dass die Pandemie am Ende womöglich nicht nur Trump verjagt, sondern auch zu tiefen Rissen in jener liberalen Rahmung des Antirassismus führt - in Richtung eines »Projekt 2020«.
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