Mystischer Paradiesgarten
Georgien - Brücke zwischen Orient und Okzident
Georgien hat am Samstag gewählt. Dieser Umstand hat hierzulande kaum große Aufmerksamkeit erregt. Bedauerlich, handelt es sich doch um ein Land, das in seiner anderthalbtausendjährigen Geschichte eine beachtliche Mittlerrolle zwischen Orient und Okzident eingenommen hatte - was jedoch im Alltagsbewusstsein wie auch in der historischen Forschung in Deutschland kaum bekannt ist. Der eine oder andere kennt vielleicht noch das legendäre Kolchis (Egrisi).
Der Kaukasus war Spielball antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Imperien, der Griechen, Römer, Perser, Mongolen, Türken, Araber - und Russen. Für die USA und die NATO kommt Georgien mit seinen knapp fünf Millionen Einwohnern und einer territorialen Größe wie Bayern heute eine besondere strategische Rolle in der Rivalität mit Russland und Iran zu. Die vom Westen hofierte georgische Führung hatte im August 2008 einen fünf Tage dauernden Krieg gegen den nördlichen Nachbarn angezettelt, der dazu führte, dass sich die autonomen Republiken Abchasien und Süd-Ossetien aus dem georgischen Staatsverband lösten und sich unter Moskauer Schutzschirm begaben.
Dankenswerterweise bringt Philipp Ammon Georgien dem deutschen Leser nahe. Gestützt auf solide Quellen und fokussiert auf die Beziehungen zu Russland, zeichnet er ein ausgewogenes und differenziertes Bild der beiden ungleichen Nachbarn, ihrer Nähe sowie deren kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Austausch. Die eurasische Großmacht hatte prägenden Einfluss auf die Entwicklung Georgiens in den letzten zwei Jahrhunderten, auf Reformen und Revolutionen, auf die Bildung einer einheitlichen Nation sowie als Schutzmacht vor kaukasischen Bergvölkern sowie persischen, arabischen und türkischen Eroberern. Der Autor beschreibt aber auch die »imperialen Verfehlungen« Moskaus: die Annexion Georgiens seit Paul I. (1801), die Eingliederung der autokephalen georgischen Kirche in die weitaus jüngere russisch-orthodoxe Kiewer Rus durch Alexander I. (1811) sowie die Russifizierung unter dem letzten russischen Zaren, Nikolaus II.
Es fehlt in dem Buch nicht die von georgischen Sozialdemokraten errichtete »Rote Bauernrepublik« in Gurien. Hatte die zaristische Kolonialherrschaft für Entfremdung, Enttäuschung und Empörung in der georgischen Bevölkerung gesorgt, brachten die Abgesandten der Moskauer Sowjetmacht wie die Georgier Josef Dschughaschwili (Stalin), Sergo Ordschonikidse und der aus Gori stammende Armenier Simon Ter-Petrosjan (»Kamo«) die 1918 entstandene unabhängige, sozialdemokratisch-menschewistische Republik Georgien 1921 gewaltsam, durch Einmarsch der Roten Armee, zu Fall. Lenin hatte dies entschieden abgelehnt, war jedoch infolge seiner bereits schweren Erkrankung außerstande, die Fehlentscheidung zu verhindern. Ein letztes Aufbegehren gegen Moskau wurde 1924 niedergeschlagen, 4000 georgischen Rebellen wurden hingerichtet.
Die Ambivalenz der russisch-georgischen Beziehungen zeigte sich erneut nach der Abrechnung des neuen KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschows mit Stalin auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Am 5. März 1956, drei Jahre nach dem Ableben Stalins, kam es in Tbilissi, der Hauptstadt der Unionsrepublik, zu gewalttätigen Ausschreitungen. Tausende Jugendlicher protestierten gegen die Moskauer »Entstalinisierer«. Sie forderten, den »größten Sohnes Georgiens« - Stalin - zu rehabilitieren.
Bemerkenswert sind die Untersuchungen Ammons auch zum Kaukasus- und Georgienbild in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Keine andere Region hat einen solchen herausragenden Platz in den lyrischen und epischen Werken russischer Schriftsteller eingenommen wie der »wilde Nordkaukasus« und der zum »warmen Sibirien« verklärte südkaukasische Verbannungsort. Allein nach dem Dekabristen-Aufstand 1825 waren 70 Offiziere und 3000 Soldaten dorthin deportiert worden. Romantisch-mythische Züge erhielt Georgien vor allem in Puschkins Werken.
Heute gilt Georgien, wie Uwe Halbach im Nachwort vermerkt, vielen Russen noch immer als »mystischer Paradiesgarten«. Und dies trotz der Spannungen seit dem Zerfall der Sowjetunion.
Philipp Ammon: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jahrhundert bis 1924. Verlag Vittorio Klostermann, 238 S., geb., 29,80 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.