Sicherheitsgefühl wiegt schwerer als Angst vor Überwachung

Nach einer Serie von Anschlägen mit Todesopfern fordern in Frankreich rechte Kreise und Parteien die Änderung der Verfassung zugunsten von Law and Order

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Wegen der anhaltenden Gefahr von Terroranschlägen gilt in Frankreich bereits seit den blutigen Anschlägen vom Januar und November 2015 ein Gesetz über Sicherheitsmaßnahmen, die eine Art Ausnahmezustand zur Folge haben. Diese Maßnahmen sind in drei Stufen gestaffelt, wobei seit dem Anschlag in der vergangenen Woche in Nizza erstmals seit 2018 wieder zeitweise die höchste Stufe »Vigipirate - Akute Anschlagsgefahr« gilt.

Sichtbare Folge ist, dass jetzt 7000 Militärangehörige statt bisher 3000 Schwerbewaffnete in den Stadtzentren Streife gehen. Während dieser Anblick ausländische Besucher anfangs oft schockiert, haben sich die Franzosen daran gewöhnt und sie fühlen sich so etwas sicherer. Als ständige Sicherheitskräfte zählt Frankreich insgesamt etwa 100 000 Angehörige der nationalen und der kommunalen Polizei sowie der Gendarmerie. Eine seit Jahren schwelende Debatte entzündet sich an der Frage, ob Kommunalpolizisten bewaffnet sein sollten oder nicht. Das liegt im Ermessen der Stadtverwaltungen.

Vor allem linke Bürgermeister sind dagegen, weil sie befürchten, dass sich dann die nationale Polizei, die dem Innenministerium untersteht, aus ihrer Verantwortung für die Sicherheit im Lande stehlen könnte. Ganz anders handeln die meisten rechten Amtskollegen, angeführt durch Christian Estrosi, Bürgermeister von Nizza. Seine Kommunalpolizisten sind bewaffnet. Doch vor allem hat er als erster in Frankreich schon ab 2007 im gesamten Stadtgebiet Videokameras installiert. Die durch den Anschlag gegebene Medienpräsenz nutzte Bürgermeister Estrosi maximal, um sein umstrittenes Videoüberwachungskonzept zu preisen. Gleichzeitig beklagte er sich darüber, dass ihm die Datenschutzbehörde CNIL bislang nicht erlaubt, die Kameras mit einem Computerprogramm für Personenidentifizierung per Gesichtserkennung zu kombinieren. Eine solche Software, die sich per künstlicher Intelligenz in dem Maße ständig selbst perfektioniert, wie neue Personen mit ihren Fotos und Daten erfasst werden, hat die Stadt bereits erworben - »für alle Fälle«, wie Estrosi sagt.

Wegen der strengen gesetzlichen Vorschriften ist in Frankreich die Zahl der Kameras auf öffentlichen Straßen und Plätzen im Vergleich zu anderen demokratischen Ländern oder gar zu China relativ bescheiden. Immerhin hat sie sich in den fünfzig größten Städten - also einschließlich Paris - zwischen Ende 2013 und Anfang 2020 von 4800 auf 11 400 erhöht. Davon entfallen allein 2600 Kameras auf Nizza. Insgesamt gibt es in rechts geführten Städten doppelt so viele Videokameras wie in links regierten.

Umfragen haben ergeben, dass diese Überwachungstechnik von den Bürgern nach anfänglichem Widerstreben inzwischen weitgehend angenommen wurde und zu einem Gefühl höherer Sicherheit geführt hat. Das bestärkt die Politiker der rechten Oppositionspartei der Republikaner - ganz zu schweigen von denen des rechtsextremen Rassemblement national -, in ihren Forderungen nach mehr »Law and Order« immer weiter zu gehen. Nach dem jüngsten Mordanschlag in Nizza fordern sie nicht nur mehr Personal und Technik für die Vorbeugung und zur Aufklärung von Anschlägen, sondern auch eine Verschärfung der Gesetze. So sollten die Vorschriften für den Schutz von Personen und Daten »überdacht« und »der neuen Lage angepasst« werden.

Dabei macht man auch vor dem Grundgesetz nicht Halt. »Wenn die Verfassung für diesen Krieg nicht ausreicht, muss sie geändert werden«, sagte Anfang der Woche Nizzas Bürgermeister Estrosi. Der hier gewählte Parlamentsabgeordnete und sicherheitspolitische Sprecher der Republikaner, Eric Ciotti, ergänzte: »Eine Verfassungsänderung ist unerlässlich. So muss Sicherheitsverwahrung für Terroristen möglich werden, die ihre Gefängnisstraße abgebüßt haben, aber weiter eine Gefahr darstellen.« Er denke dabei an »eine Art Guantanamo à la française«.

Für die Rechtsextremisten-Führerin Marine Le Pen liegt die Wurzel des Problems bei den Ausländern, die illegal ins Land kommen und die von der Regierung nicht konsequent genug kontrolliert, inhaftiert und abgeschoben werden. »Außerdem muss die islamistische Ideologie bekämpft werden, mit der die Terroristen radikalisiert werden und die ihre Waffe darstellt«, sagte sie. »Gegen diese Leute brauchen wir rechtliche Ausnahmeregelungen.«

Seit die Zeitschrift Charlie Hebdo Anfang September zum Auftakt des Prozesses über den Mordanschlag von 2015 die Mohammed-Karikaturen noch einmal abgedruckt hat, häufen sich im Internet die Morddrohungen radikal-islamistischer Gruppierungen, gab Innenminister Gérard Darmanin am Montag bekannt. Mehrere Attentate konnten rechtzeitig vereitelt werden, doch die Ermittlungen würden dadurch erschwert, dass es sich um junge Einzeltäter handelt, die der Polizei bisher nicht bekannt waren, die sich im Geheimen per Internet radikalisiert haben und die mit einem einfachen Messer bewaffnet »Low Cost-Attentate« begehen. Drei solcher Anschläge haben allein in den zurückliegenden vier Wochen Todesopfer und Verletzte gefordert, sagte er. »Für die nächste Zeit müssen wir mit weiteren rechnen.« Am Montag kündigte Darmanin inmitten der Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei ein Verbot der rechtsextremen türkischen Organisation Graue Wölfe an.

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