- Kommentare
- Klimakrise
Von der Idiotie des (Klima-)Zentrismus
Heiße Zeiten – Die Klimakolumne: Der Großteil der Gesellschaft hat noch nicht verstanden, dass das Klima nur mit einem radikalen, schnellen, in mancherlei Hinsicht brutalen Umbau unserer Lebensweise zu retten ist, meint Tadzio Müller.
Zerfall ringsum, das Zentrum hält nicht stand;
Die Anarchie ist losgelassen in die Welt.
William Butler Yeats
Es ist Mittwochmorgen, und ich will die Klimakolumne über die Strategie im Kampf für Klimagerechtigkeit schreiben, nachdem im Europaparlament eine so schlechte Agrarreform durchgewinkt wurde, dass sogar die großen deutschen Umweltverbände (die den Kohleausstieg 2038 mit abgenickt haben) diese als unzureichend kritisieren. Agrarreform: kein langweiliges, auf gar keinen Fall ein unwichtiges Thema.
Tadzio Müller ist Referent für Klimagerechtigkeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und in der Klimabewegung aktiv.
Leider behauptet dann plötzlich der orangefarbene Protofaschist, der noch im Weißen Haus sitzt, er habe die Wahlen gewonnen. Jetzt geht’s hin und her zwischen Biden und Trump, zwischen Bundesstaat A und Bundestaat B. An so einem Tag kann ich nicht bloß über Klimastrategie schreiben. Da muss das, was es über Klima(gerechtigkeits)strategie zu sagen gibt, so formuliert werden, dass es auch in anderen Gerechtigkeitskämpfen relevant ist, sonst können wir die ganze Idee intersektionaler Bewegungspolitik – also das Verbinden von Kämpfen verschiedener Bewegungen gegen Machtstrukturen, die wiederum verschiedene Hierarchien und Unterdrückungsverhältnisse miteinander verbinden – einfach knicken.
Wie also könnte ich die Überraschung eines relativen Patts in den USA mit der Klimadebatte verknüpfen? Ganz einfach: Die politische Position, die sich anmaßt, die »Mitte der Gesellschaft« zu sein, das, was man auch als Zentrismus bezeichnen könnte, hat uns mal wieder mit vollem Karacho in die Scheiße gefahren. Das klingt nach dem Wahnsinn, den Einstein so beschrieb: immer dasselbe tun, aber andere Resultate zu erwarten.
In den USA hat der zentristische Flügel der Demokraten einen schwachen Kandidaten aufgestellt, der nur gewinnen sollte, weil er »nicht Trump« war. Warum haben die Demokraten das gemacht? Weil sich das angebliche Zentrum der Gesellschaft im Grunde immer noch nicht der Tatsache bewusst ist, dass es komplett abgewirtschaftet hat. Dass die Normen, Praktiken, Institutionen, Diskurse, die die Gesellschaft seit Jahrzehnten dominieren, uns an den Rand mehrere Ruine getrieben haben. Corona und Faschismus, Klima- und Biodiversitätskrise, Überwachungskapitalismus und internationale Kriege: In was für einer Dreckswelt leben wir eigentlich gerade?
Der Großteil unserer Gesellschaft, vermutlich tatsächlich »die Mitte«, hat noch nicht verstanden, dass das Klima nicht mit Reförmchen gerettet werden kann – dass es dafür einen radikalen, schnellen, in mancherlei Hinsicht brutalen Umbau unserer Produktions- und Lebensweise geben muss.
Kürzlich diskutierte ich mit einer konservativen Grünen die Frage, ob der »Green Deal« der EU das Klima retten könne. Diese Debatte ist für mich eher ein Heimspiel. Diesmal lief ich hart auf. Wieso? Weil die Grüne die Realität ignorierte: dass es bisher keinen Klimaschutz gibt; nirgendwo auf der ganzen Welt werden Emissionen wirklich reduziert. Nur weniger wirtschaftliche Aktivität reduziert Emissionen, wie im Corona-Lockdown. Sie erzählte, dass ein bisschen höherer Emissionspreis hier, eine Kohlenstoffsteuer dort das Problem lösen könnte und weigerte sich, die kriminelle deutsche Autoindustrie als kriminell zu bezeichnen.
Destruktive Kompromisslosigkeit
Dass die Klimaliste jenseits der Grünen in die Parlamente will, ist ein strategischer Witz, meint Michael Lühmann.
Die Krönung war ihre Antwort auf meine Frage, was sich in Deutschland ändern müsste, um das Land klimagerecht zu machen: »weniger Fleisch essen und ... anders fliegen«. Nicht einmal weniger fliegen, nur »anders«, obwohl Studien belegen, dass es Technologien zum »anderen«, also nicht klimaschädlichen Fliegen noch nicht gibt. Die Frau ist nicht bei irgendeiner antiökologischen Partei – sie ist bei den Grünen, und kann nicht einmal anerkennen, dass Menschen hierzulande eventuell weniger fliegen sollten.
Dieser Abend, genau wie der Mittwochmorgen, machte mir deutlich, was ich eigentlich schon lange weiß: Things fall apart, the centre cannot hold (William Butler Yeats – Zerfall ringsum, das Zentrum hält nicht stand). Wenn jemand den Kampf gewinnen wird, dann die junge Generation und ihre Bewegungen – Metoo, Black Lives Matter, Fridays for Future.
Der Rest: kann weg.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.