Verlorenes Territorium

Erobern Islamisten die französischen Vorstädte? Ein Blick in die Forschung.

  • Andreas Häckermann
  • Lesedauer: 5 Min.

So deutlich die islamistischen Attentate der letzten Wochen ein gemeinsames Ziel verfolgen, so sehr unterscheiden sie sich im Detail. Für Wien kann wohl der »Islamische Staat« im Hintergrund vermutet werden, der auch für die Morde in Nizza nicht ausgeschlossen werden kann. Im Mordfall des Lehrers Samuel Paty zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Diese Tat geschah offenbar nicht im Namen der Terrororganisation, sondern war die Folge einer Reihe »zivilgesellschaftlicher« Handlungen, die den Geschichts- und Geografielehrer auf analogen und digitalen Wegen ins Visier nahmen. Paty fiel somit zwar letztlich einem Einzeltäter zum Opfer. Möglich wurde das aber offensichtlich nur durch ein gut funktionierendes, jedoch weitgehend dezentrales Netzwerk im Vorfeld der Tat.

Für diese Art von Netzwerk, die der französische Präsident Emmanuel Macron nun zum Hauptziel des Gegenangriffs deklariert hat, zirkuliert seit Frühjahr der Begriff der »écosystèmes islamistes«, also der »islamistischen Ökosysteme«. Als neue Wortprägung entstammt er einer Studie, die sich in Titel und Gegenstand an einem Buch aus dem Jahr 2002 orientiert, das nun erneut immer wieder zitiert wird - und das der Rassemblement National (RN) seit Jahren als Referenz heranzieht. In »Les territoires perdus de la republique« (Die verlorenen Territorien der Republik) publizierte der Historiker Georges Bensoussan damals anonymisierte Interviews mit Lehrern, Ärzten und vielen anderen Staatsangestellten in den Banlieus. Die Wortmeldungen offenbarten ein omnipräsentes Gefühl der Resignation angesichts einer sozialen Atmosphäre, in der islamisch-fundamentalistische Verhaltensnormen das Zusammenleben in den trostlosen Vorstädten zunehmend bestimmten und nichtreligiös-individualistische Lebensformen offensiv bekämpft wurden. Für Aufsehen sorgte nicht zuletzt die Beobachtung, dass ein offenbar erheblicher Anteil der Jugendlichen muslimischer Konfession diese Denkweisen und Verhaltensnormen nicht nur übernommen hatte, sondern auch an den dortigen Schulen zunehmend den Ton angibt.

Die Studie aus dem Frühjahr heißt nun ganz ähnlich »Territoires conquis de l’islamisme« (Die vom Islamismus eroberten Territorien) und präsentiert die Ergebnisse von Feldforschungen, die eine Gruppe von Doktoranden des Islamforschers Bernard Rougier in den letzten Jahren durchgeführt hat. Das Interesse galt dabei den alltäglichen Strukturen, die - so die These - jenseits spektakulärer Attentate die eigentliche Machtbasis des französischen Islamismus darstellen und für die Rougier selbst den Begriff »écosystèmes« geprägt hat. Gemeint ist einerseits das heterogene organisatorische Netz aus radikal-islamischen Sportvereinen - auch der Mörder Patys besuchte einen derartigen Kampfsportverein in Toulouse -, Halal-Restaurants, lokalen Koranschulen, nachbarschaftlichen Beratungs- und Unterstützungsangeboten und Ähnlichem. Andererseits bezieht sich der Begriff auf die Strategie der »Atmosphärenpolitik«, mit der salafistische Akteure den Banlieus ihre rigorosen Normen zu oktroyieren versuchen.

Wie nun im Fall Paty zu erkennen, nutzt diese Politik der Studie zufolge gezielt die Denunziationsmöglichkeiten digitaler Netzwerke - nicht zuletzt gegen Lehrkräfte, die seit Langem davon berichten - und erweitert damit ihr analoges Repressionspotenzial erheblich. Während die organisatorische Infrastruktur ein breit gefächertes Angebot der Integration und Binnensolidarität ermöglicht, schafft die durch konkrete Gewaltandrohung untermauerte Denunziationspolitik demnach ein Klima, das in vielem der Dystopie aus Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« ähnelt. Den Akteuren geht es folglich in der Tat um Territorialpolitik, letztlich um den Aufbau eines autonomen Herrschaftsgebiets der Scharia.

So medienkompatibel diese Beobachtungen sind, so umstritten ist die Studie Rougiers in der akademischen Soziologie. So verweist etwa Agnes Villechaise, Soziologin in Bordeaux und Mitverfasserin des Bandes »Désirs d’islam« (in etwa übersetzbar mit »muslimisches Begehren« im Plural), auf Forschungen der letzten Jahre, die im Gegenteil die Vielfalt und Liberalisierungstendenzen des französischen Islam betonen, die den Geländegewinnen islamistischer Netzwerke diametral entgegenstehen. Ein Großteil der französischen Muslime ist demzufolge für fundamentalistische Appelle unempfänglich, in ihrer Lebensführung weitgehend angepasst und in ihrem Rechtsverständnis staatsloyal.

Selbst der Großteil der Strenggläubigen respektiere den laizistischen Staat und hege keinerlei Sympathien für eine Theokratie. Wo Derartiges existiert, habe die Distanz zum Staat bei jüngeren Muslimen zudem unterschiedliche soziale Ursachen und zeuge in vielen Fällen schlicht von einer kritischen Haltung, etwa mit Blick auf die französische Kolonialgeschichte. Die Existenz eines wachsenden radikalisierten Milieus bestreitet auch Villechaise zwar nicht. Zu fragen sei jedoch in erster Linie nach den sozialen Bedingungen dieses Wachstums mit Blick auf Marginalisierungserfahrungen und Identitätskonflikte.

In der Diskussion um die »islamistischen Ökosysteme« zeigt sich damit erneut eine altbekannte Bruchlinie, die eng mit den politischen Lagern korreliert. Die eine Seite hält den Begriff für ein politisches Schlagwort, der Heterogenität und Komplexität eher verdeckt als entwirrt. Sie betrachtet den fundamentalistischen Islam als gefährlich, doch eher marginal, fragt nach seinen gesamtgesellschaftlichen Erfolgsbedingungen und kritisiert die Vorstellung religiös-kultureller »Essenzen«. Die andere Seite zeigt sich weit stärker alarmiert durch etablierte, hocheffektive »Ökosysteme«. Diese sieht sie als Resultat einer erfolgreichen politischen Strategie, die Integrationsbemühungen vonseiten der nichtmuslimischen Mehrheit bewusst bekämpft, sich durchaus existente religiös-kulturelle Dispositionen zunutze macht - und nicht zuletzt von fehlendem Gegendruck profitiert.

Für Macron und seinen Innenminister Gérald Darmanin scheint nicht erst seit den jüngsten Vorfällen klar zu sein, welcher Seite ihre Aufmerksamkeit gebührt. Schon vor dem Mord an Paty präsentierte der Präsident einen auf Ergebnissen einer Enquete-Kommission des Senats basierenden Strategieplan, der auf die systematische Zerschlagung der islamistischen Territorialpolitik abzielt, digitale Räume inklusive. Nach dem Mord in Conflans kündigte er unter der Parole »Die Angst wird die Seiten wechseln« weitere Maßnahmen an, die derzeit anlaufen. Die Regierung, so die Botschaft, hat mit der Rückeroberung der »verlorenen Gebiete« begonnen. Und skeptische Stimmen sind bei Regierungen, die sich im Krieg wähnen, bekanntlich wenig populär.

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