Last Call TXL

Am Sonntag startet das letzte Flugzeug vom Flughafen Tegel. Der Norden Berlins kann endlich aufatmen

Als meine Familie und ich 2011 nach Pankow zogen, taten wir dies in der Erwartung der baldigen Stilllegung des Flughafens Tegel, die für 2012 angekündigt war. Seitdem leiden wir kollektiv unter den (zumindest bis Corona) minütlich über uns hinweg donnernden Flugzeugen und sehnen uns nach dem Ende des Lärmterrors. Wie muss es erst, habe ich mich regelmäßig gefragt, den Menschen in Wedding und Reinickendorf ergehen, wo die Jets noch viel tiefer fliegen? Wer einmal auf dem Kurt-Schumacher-Platz stand und das Heulen, Donnern und Brausen der direkt über den Köpfen der Passanten zur Landung ansetzenden Maschinen erlebt hat, fragt sich fassungslos, wie hier überhaupt jemand leben kann.

Diese Frage hat sich wohl auch Marvin Systermans gestellt und sich mit seiner Kamera auf den Weg gemacht, die dicht besiedelte Einflugschneise des Flughafens zu erkunden. Für die Hunderttausenden, die hier leben, ist Tegel gewiss nicht der »Flughafen der Herzen«, als den ihn die Berliner FDP in ihrer Kampagne gegen die Schließung des Airports angepriesen hat. Die Leute wollen endlich Ruhe über ihren Köpfen – gleichzeitig wächst die Angst vor der nachfolgenden Aufwertung ihrer Quartiere mit all den Begleiterscheinungen, mit denen schon die Mieter der Innenstadt zu kämpfen haben.

Marvin Systermans
Marvin Systermans, 1990 in Köln geboren, ist ein deutscher Künstler und Dokumentarfotograf. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich vorwiegend mit menschlichen Lebensräumen und deren soziokulturellen und strukturellen Wandlungsprozessen. Er hat Kommunikationsdesign an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein und Fotografie bei Peter Bialobrzeski an der Hochschule der Künste Bremen studiert. In diesem Jahr gehörte er bereits zum zweiten Mal zu den Gewinnern des Fotowettbewerbs des Münzenberg Forums, u.a. für seine Serie »TXL, Last Call Berlin«, die wir hier auszugsweise präsentieren. Außerdem schreibt er.
www.marvinsystermans.com

Aus der Ursprungsidee Systermans ist die soziokulturelle Erforschung eines Lebensraums geworden, der weitab vom aufgeregten Hauptstadtbetrieb geprägt ist von Arbeitersiedlungen, Fabriken, Gebrauchtwagenhandlungen, Kleingärten und dem Wohnraum der sogenannten einfachen Leute. Das alte Westberlin, hier ist es noch zu sehen, zu riechen und auch zu schmecken. Die Beziehung und Wechselwirkung zwischen »oben« (da, wo die Flugzeuge sind) und »unten« (die Lebenswelt der Menschen) hat Systermans in pointierten Bildern festgehalten.

Am Sonntag startet die letzte Maschine von TXL in Richtung Paris, und in einem halben Jahr wird Tegel endgültig stillgelegt. Größere Feiern sind im Gegensatz zu 2012 nicht mehr geplant; die Menschen sind der Endlosgeschichte des neuen Flughafens überdrüssig geworden. Corona und der Klimawandel haben ihr Übriges dazu beigetragen, dass es ein Zurück zur guten alten Zeit des Fliegens als alltäglicher Massenerscheinung auch am BER kaum mehr geben wird.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!