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Last Call TXL
Am Sonntag startet das letzte Flugzeug vom Flughafen Tegel. Der Norden Berlins kann endlich aufatmen
Als meine Familie und ich 2011 nach Pankow zogen, taten wir dies in der Erwartung der baldigen Stilllegung des Flughafens Tegel, die für 2012 angekündigt war. Seitdem leiden wir kollektiv unter den (zumindest bis Corona) minütlich über uns hinweg donnernden Flugzeugen und sehnen uns nach dem Ende des Lärmterrors. Wie muss es erst, habe ich mich regelmäßig gefragt, den Menschen in Wedding und Reinickendorf ergehen, wo die Jets noch viel tiefer fliegen? Wer einmal auf dem Kurt-Schumacher-Platz stand und das Heulen, Donnern und Brausen der direkt über den Köpfen der Passanten zur Landung ansetzenden Maschinen erlebt hat, fragt sich fassungslos, wie hier überhaupt jemand leben kann.
Diese Frage hat sich wohl auch Marvin Systermans gestellt und sich mit seiner Kamera auf den Weg gemacht, die dicht besiedelte Einflugschneise des Flughafens zu erkunden. Für die Hunderttausenden, die hier leben, ist Tegel gewiss nicht der »Flughafen der Herzen«, als den ihn die Berliner FDP in ihrer Kampagne gegen die Schließung des Airports angepriesen hat. Die Leute wollen endlich Ruhe über ihren Köpfen – gleichzeitig wächst die Angst vor der nachfolgenden Aufwertung ihrer Quartiere mit all den Begleiterscheinungen, mit denen schon die Mieter der Innenstadt zu kämpfen haben.
www.marvinsystermans.com
Aus der Ursprungsidee Systermans ist die soziokulturelle Erforschung eines Lebensraums geworden, der weitab vom aufgeregten Hauptstadtbetrieb geprägt ist von Arbeitersiedlungen, Fabriken, Gebrauchtwagenhandlungen, Kleingärten und dem Wohnraum der sogenannten einfachen Leute. Das alte Westberlin, hier ist es noch zu sehen, zu riechen und auch zu schmecken. Die Beziehung und Wechselwirkung zwischen »oben« (da, wo die Flugzeuge sind) und »unten« (die Lebenswelt der Menschen) hat Systermans in pointierten Bildern festgehalten.
Am Sonntag startet die letzte Maschine von TXL in Richtung Paris, und in einem halben Jahr wird Tegel endgültig stillgelegt. Größere Feiern sind im Gegensatz zu 2012 nicht mehr geplant; die Menschen sind der Endlosgeschichte des neuen Flughafens überdrüssig geworden. Corona und der Klimawandel haben ihr Übriges dazu beigetragen, dass es ein Zurück zur guten alten Zeit des Fliegens als alltäglicher Massenerscheinung auch am BER kaum mehr geben wird.
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