Behutsame Abrechnung

Wolfgang Ruge und die Stalinismuskritik in der SED/PDS der Wendezeit.

  • Andreas Meinzer
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Mann, der so alt war wie der Kommunismus, brauchte sich in der Wendezeit nicht sagen lassen, wie repressiv der Staat gewordene Sozialismus sein konnte. Das hatte er selbst erlebt. Schon früh in der kommunistischen Jugend aktiv, floh er 1933 im Alter von 16 Jahren mit seiner Mutter nach Moskau. Dort bekam er, wenn auch nicht am eigenen Leib, Stalins Großen Terror zu spüren. Viele, die im Exil geholfen hatten, verschwanden einfach. Nach Hitlers Überfall wurde er, obwohl Sowjetbürger, aufgrund »deutscher Nationalität« deportiert. Über die Internierungslager, die Arbeit als Holzfäller und Landarbeiter schrieb er später - in seiner Autobiografie »Gelobtes Land«.

Dass er je aus der Verbannung zurückkehren sollte, war auch nicht abzusehen. 1948 wurde ihm und anderen Deportierten durch einen Oberst des NKWD das Gegenteil verkündet. Dass ihm aber gestattet wurde, sein 1941 begonnenes Geschichtsstudium als Fernstudent in Swerdlowsk zu beenden, erwies sich später als Rückfahrschein. 1956 kam er in die DDR und fand Anstellung im neu gegründeten »Institut der Geschichte« (IfG) an der Akademie der Wissenschaften, wo er 1958 Abteilungsleiter wurde - spezialisiert auf Biografien der Weimarer Republik, von Hindenburg über Erzberger und Stresemann bis hin zu Clara Zetkin.

Aber auch und gerade in diesem Institut hatte das »Tauwetter« der 1950er Jahre enge Grenzen: Schon im Gründungsjahr griffen im Institut Kampagnen der SED gegen »Positivismus«, »Faktologie« und zur »Zurückdrängung revisionistischer Ansichten«. Das Machen und Schreiben von Geschichte war eins für die Partei. Ab 1960, nachdem »bürgerliche Kräfte« herausgedrängt worden waren, übernahm ein ehemaliger Dozent der Parteihochschule die Institutsleitung.

All das hat wohl lange in Ruge gegärt. Doch als im Spätherbst 1989 die Partei verkündete, »unwiderruflich mit dem Stalinismus als System« gebrochen zu haben, da drängte es Ruge, seine Schubladen zu leeren. Was das denn gewesen sei, der »Stalinismus als System«, das umriss er im Januar 1990 zunächst in zwei Zeitungsbeiträgen in »Der Sonntag« und im ND - »Die Doppeldroge (Zu den Wurzeln des Stalinismus)« sowie »Wer gab Stalin die Knute in die Hand?«. Und im Sommer dieses Jahres zwischen den Systemen schrieb er seine Gedanken binnen weniger Wochen in Buchform nieder. Das Werk »Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte« erschien im Deutschen Verlag der Wissenschaften, der seit 1964 die Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften der DDR besorgte.

Zu den Stärken dieses Buches, das nun 30 Jahre später neu aufgelegt wurde, zählt Ruges erzählerische Kraft. Er liefert eine faszinierende Innenansicht nicht nur des Stalinismus, sondern auch der zaghaften »Entstalinisierung« unter Nikita Chruschtschow, als hätte er die Sitzungen mitgehört. In der Sache datierte er den Beginn des »ausgereiften klassischen Stalinismus« auf den 1. Dezember 1934, um 16.30 Uhr russischer Zeit. Als auf das Politbüromitglied Sergej Mironowitsch Kirow ein ungeklärter Mordanschlag verübt wurde, nahm die Führung um Stalin das zum Anlass von »Säuberungen« - und entfachte, was Ruge im Kern als Stalinismus versteht: permanente Gewalt, Terror, Vernichtung, die Ausmerzung alles Schöpferischen: »Sobald der klassische Stalinismus voll ausgereift war, begann in unvorstellbaren Ausmaßen die Ausmerzung der Tüchtigen auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, geistigen und politischen Lebens.«

Über mehrere Seiten skizziert das Buch, nur durch Nennung der Namen und rudimentärer Daten zu Leben und Werk prominenter Ermordeter, den ungeheuren Furor Stalins und seiner Getreuen gegen Persönlichkeiten der Natur-, Geistes-, und Sozialwissenschaften sowie auch der Musik und Literatur. Und er zitierte schwere Sätze Nikolai Bucharins, Stalins langjährigem Weggefährten, den er 1938 ermorden ließ: »Der Zwang in allen seinen Formen, von Erschießungen bis zum Arbeitsdienst (...), ist die Methode, mittels derer die kommunistische Menschheit aus dem Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche erzeugt wird.« Oder: »Ihr sollt wissen, Genossen, dass sich auf dem Banner, das Ihr auf dem siegreichen Weg zum Kommunismus tragt, auch ein Tröpfchen meines Blutes befindet.«

Nun hatte nicht erst die SED/PDS des Herbstes 1989 mit dem »Stalinismus« gebrochen. Seit Chruschtschows berühmter »Geheimrede« auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 war die Kritik am »Personenkult« und eine Verurteilung der »Säuberungen« legitim. Die Hauptstadt der DDR hatte 1961 die Stalinallee im Bezirk Friedrichshain umbenannt. Doch war es etwas anderes, so konkret und lebendig vom Ausmaß des Terrors zu lesen. So stieß Ruges Werk unter denen, die der Partei nahestanden und solche Bücher lasen, oft auch auf Abwehr. Etliche in den frühen 1990er Jahren im ND veröffentlichten Leserbriefe schrieben seinen Texten »antikommunistische« Motive zu oder verurteilten Ruge als »Verräter«. Privat erhielt er sogar Morddrohungen.

Neben der Drastik seiner Schilderungen stießen dabei vor allem zwei weitere Punkte auf. Mochten diejenigen, die 1989 nur als Konterrevolution verstanden, in ihrer Verbitterung mit Ruges Kritik an der mechanischen Welt- wie Geschichtsauffassung und dem teleologischen Fortschrittsglauben verbreiteter Schrumpfformen des Historischen Materialismus noch einverstanden sein, waren seine Thesen zum Verhältnis zwischen dem Leninismus und dem Stalinismus sowie zum Charakter der westlichen Staaten des RGW offenbar schwerer zu nehmen.

Was das erste betrifft, sah Ruge schon im von Lenin propagierten »Massenterror« gegen die Kulaken eine Weggabelung hin zum Stalinismus - wenn auch keine zwangsläufige. Dennoch findet er schon im Stalinimusbuch Ähnlichkeiten zwischen Lenins und Stalins praktischer Politik, die er später in der Monografie »Lenin. Vorgänger Stalins« ausarbeitete. Und was das zweite angeht, zeigte er sich skeptisch gegenüber der Tendenz, den Stalinismus allein in der Sowjetunion finden zu wollen und nicht auch in den Satellitenstaaten. Damit mache man es zu bequem, registriere nur die Äußerlichkeiten statt das Wesen dieser Herrschaftsformen, das sich nur eben nicht in solch enormer Gewalt ausgedrückt habe wie in der UdSSR.

Von dem Opportunismus, der Ruge aus entsprechender Richtung vorgeworfen wurde, kann keine Rede sein. Er mag es genossen haben, dass seine Nachwendebücher auch in den alten Bundesländern positiv aufgenommen wurden, doch hatte der 1982 Emeritierte nichts zu gewinnen oder verlieren. Und brachial war seine Abrechnung am Ende auch nicht. Er hat nicht etwa aufgrund des Erlebten mit dem Sozialismus gebrochen, obwohl er als Renegat mit offenen Armen empfangen worden wäre. Doch Ruge gab seinem Buch einen anderen Ausblick: »Nur ein grundlegender Wandel der Gesellschaftsbeschaffenheit in Richtung Harmonisierung von wirtschaftlicher Effizienz, ökologischer Bewusstheit und sozialer Geborgenheit kann die Spezies Mensch vor der Selbstvernichtung retten.« Und dabei seien »sozialistische Ideen unverzichtbar.«

Als PDS-Mitglied sorgte Ruge dafür, dass in der »Nachfolgepartei« diese Kritik und Selbstkritik in einem eigenen, quasi sicheren Raum geführt werden konnte. Das war derselben sicher förderlich. Ob die Aufarbeitung ausreichte oder zu früh abgebrochen wurde? Darüber mag man heute streiten. Doch ist all das für Nachgeborene natürlich auch erheblich leichter.

Wolfgang Ruge: Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte. Verlag Die Buchmacherei, 192 S., br., 12 €.

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