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Tödliche Abschottung
Die Migrationspolitik der EU produziert an ihren Außengrenzen Tragödien.
Ihre genaue Zahl kennt niemand, ihre Namen bleiben meist im Verborgenen: Das Sterben von Menschen auf gefährlichen Fluchtrouten setzt sich fort, und die EU verschränkt die Arme. Die auf Abschreckung vor ihren Toren setzende EU-Asylpolitik vermindert nicht den Migrationsdruck in ihrem Süden. Global waren 2019 sogar etwa 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Der europäische Staatenbund bekommt nur einen Bruchteil des Problems zu spüren, das Kriege und Krisen, soziale und ökologische Katastrophen immer weiter verschärfen.
Erst am Donnerstag ereignete sich im Mittelmeer nahe der libyschen Küste ein neues Bootsunglück. Nach dem Untergang des Fahrzeugs mit deutlich mehr als 120 Insassen an Bord konnten nur 47 Überlebende von Fischern und Küstenwache gerettet werden. Nur einen Tag zuvor starben vor Libyen mindestens sechs Flüchtlinge, darunter ein sechs Monate altes Baby. Spanische private Seenotretter konnten 110 Personen mit ihrem Schiff »Open Arms« bergen. Insgesamt sind nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr auf dem Mittelmeer bereits rund 900 Menschen ums Leben gekommen.
Bei den Themen Migration und Asyl zieht sich durch die Europäische Union ein tiefer Riss. In der politischen Debatte um eine Reform des europäischen Asylrechts prallen die nationalen Egoismen der Mitglieder aufeinander und macht sich der Einfluss rechtspopulistischer Strömungen bemerkbar. Eine Neuordnung der EU-Migrations- und Asylpolitik hat Deutschland, das seit Juli turnusgemäß den EU-Vorsitz führt, mit auf dem Zettel. Im September hatte die Europäische Kommission einen Reformvorschlag vorgelegt. Auf einem wegen der Coronakrise als Videokonferenz abgehaltenen Treffen der EU-Innenminister unter Leitung des deutschen Ressortchefs Horst Seehofer am Freitag stand das Thema auf der Agenda. Topthema der Konferenz wurde wegen der Anschläge in Dresden, Paris, Nizza und Wien kurzfristig die Bekämpfung des Terrorismus. Ein großer Durchbruch im Asylstreit war nicht zu erwarten. Zu illegalen »Pushbacks« in Griechenland wollte sich Seehofer zur Halbzeit des Treffens nicht äußern, stattdessen lobte er den EU-Grenzschutz: »Wir brauchen Frontex.«
Seehofer verspricht eine »zukunftsgerichtete Migrationspolitik«. Das alte Dublin-System, nach dem der Staat, in dem ein Flüchtling die EU betreten hat, die Zuständigkeit für die Prüfung seines Asylantrags hat, ist lange gescheitert. Die Hauptlast bei der Aufnahme der Bootsflüchtlinge tragen die Mittelmeer-Anrainerstaaten. Italien, Griechenland, Zypern und Malta sind auf faire Lastenverteilung angewiesen, sollen die katastrophalen Bedingungen in vielen Flüchtlingslagern dort nicht ewig anhalten. Insbesondere die Regierungen von Ländern in Osteuropa verweigern sich jedoch einer verbindlichen Verteilung von Flüchtlingen und Migranten. Die neuen Vorschläge aus Brüssel und Berlin haben auch den Verweigerern der Solidarität - mit den anderen EU-Staaten, mit den Flüchtlingen sowieso - etwas anzubieten: Der Plan sieht einen »Mechanismus für verpflichtende Solidarität« vor, bei dem anstelle der Aufnahme von Menschen aus stark betroffenen Ländern auch mehr Beteiligung am Grenzschutz, bei den Asylverfahren und der Rückführung abgelehnter Asylbewerber als Bußeleistung anerkannt werden sollen. Parallel zur Migrationsreform baut Österreich mit mehreren EU-Ländern, darunter auch Deutschland, an einer Plattform gegen »illegale« Migration, um die auf dem Westbalkan einzudämmen. Den Flüchtlingsdeal mit Erdogans Türkei wird die EU deshalb längst nicht aufs Spiel setzen. Das Leben von Flüchtlingen schon.
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