- Politik
- Dominic Cummings
Chefstratege hat ausgedient
In Großbritannien wirft Johnsons wichtigster Berater hin
Inmitten einer Pandemie, die in Großbritannien bereits über 50.000 Todesopfer gefordert hat, sind regierungsinterne Personalien eigentlich eher zweitrangig. Aber dieser Rücktritt wird Folgen haben: Dominic Cummings, Boris Johnsons Chefberater, hat angekündigt, dass er sich auf Ende Jahr von seinem Posten zurückziehen wird. Damit verliert der Premierminister die einflussreichste Figur in seiner Regierung. Cummings hat Johnsons aggressiven Führungsstil mehr als jeder andere geprägt, zog aber zunehmend die Kritik der Tory-Fraktion auf sich. Viele Konservative hoffen, dass Johnson in Zukunft einvernehmlicher regieren wird.
Der 48-jährige Cummings hatte sich während des Brexit-Referendums einen Namen gemacht, als führender Kopf der Leave-Kampagne. Seine Fähigkeiten als Stratege waren so legendär, dass die BBC sogar einen Film über ihn drehte. Nach Johnsons Amtsübernahme im Juli 2019 ernannte er ihn zu seinem Chefberater. In Wirklichkeit war Cummings weit mehr als das: Er hielt die Fäden der Regierung fest in der Hand, gab die strategische Richtung vor und war laut Insidern an allen wichtigen Entscheiden beteiligt. Johnson, der sich noch nie für Details interessiert hat und auch kein überzeugter Ideologe ist, war stark angewiesen auf seinen Berater. Der Kommentator Iain Martin von der »Times« hält den Premierminister sogar für »psychologisch abhängig« von Cummings. Zudem umgab sich der Chefberater - von Anhängern als »Visionär« gefeiert - mit loyalen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus der Zeit des Brexit-Referendums. Kritiker warfen ihm vor, im Prinzip die »Leave«-Kampagne in der 10 Downing Street weiterzuführen.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Cummings wird weitgehend verantwortlich gemacht für die autoritäre Politik, die Johnson verfolgt, sowie die Machtkonzentration auf einige Wenige. Die harte Linie bei den Brexit-Verhandlungen; die Bereitschaft, internationales Recht zu brechen; die Attacken auf Institutionen wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder die Justiz: All dies trägt die unübersehbaren Fingerabdrücke seines Beraters. Cummings hat nichts übrig für politische Gepflogenheiten und Traditionen.
Der Beginn vom Ende kam im Frühling, als Cummings trotz Corona-Lockdown quer durchs Land zu seiner Familie fuhr. Dass Johnson trotz diesem Verstoß gegen die regierungseigenen Regeln an seinem Berater festhielt, schadete seinem Ruf enorm und ließ seine Umfragewerte in abstürzen. In den folgenden Monaten verloren mehr Abgeordnete die Geduld mit dem gebieterischen Stil des Beraters und machten ihn Verantwortlich für die unzähligen Patzer, die sich die Regierung in der Corona-Krise leistete.
Am Ende war es der Versuch, die Machtposition der Brexit-Anhänger innerhalb der Regierung zu stärken, die zu Cummings’ Rücktritt führten. Er wollte einen engen Vertrauten, Kommunikationschef Lee Cain, zum Stabschef machen. Das stieß bei vielen Kollegen auf Ablehnung. Cain trat am Mittwoch zurück, Cummings schien den Machtkampf zu verlieren - der Berater gab seine Resignation bekannt, bevor er geschasst wurde.
Damit hat er die Regierung, die von der Corona-Pandemie weiterhin überfordert scheint, noch tiefer in die Krise getrieben. Aber bei vielen Tories hat der Rücktritt Erleichterung ausgelöst. Sie hoffen, dass die Regierung in Zukunft mehr auf Konsens setzt und die Brexit-Hardliner an Einfluss verlieren. Der Abgeordnete Bernard Jenkin sagte, Cummings Abgang sei eine Möglichkeit für einen Neustart: Die Regierung solle Wert auf »Respekt, Integrität, und Vertrauen« legen. Scharf reagierte die Opposition: Cummings’ Erbe bestehe aus »Mobbing, Täuschung, Scheinheiligkeit und Selbstüberschätzung«, twitterte der Labour-Abgeordnete und Schattenminister David Lammy.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.