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  • »Der amerikanische Leviathan«

Die Schönheit des Verrottenden

McDonald’s, Zombies und das reichste Armenhaus der Welt: Heiner Müller und die USA

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Mensch sein heißt, zur Musik der eigenen Überflüssigkeit tanzen zu dürfen. Aber man tanzt ja nicht wirklich. Man strampelt, klettert, kommt verlässlich ins Rutschen. Franz Kafka erzählt im Romanfragment »Amerika« die Odyssee des 16-jährigen Deutschen Karl Rossmann - von den Eltern verstoßen, in New York landend, wie man im richtigen Leben landet: um zu strampeln, zu klettern, zu rutschen. Zu strampeln für ein wenig Geld, zu klettern für ein bisschen Geltung - am Ende alles nur, um abzurutschen.

Die USA waren und sind und bleiben das Immer und Überall: Versprechen und Verbrechen, Glanz und Elend, Paradies und Hölle. Das kann man die Alte oder die Neue Welt nennen. Der Norden des amerikanischen Kontinents ist ein fortdauerndes Gleichnis: große Überfahrt, um unterzugehen auf dem allzu festen Land. Schaum und Schläger, Ausbünde und Ausbeuter: Die USA als zauberisch-zotige Stätte, wo jene, die kein Gewissen haben, mit denen, die kein Gewissen brauchen, seltsam friedliche Vorführungen geben. Und vieles endet, so Heiner Müller, in der Philosophie von McDonald’s: Jeder Gedanke ist uninteressant, »der sich nicht unmittelbar in Hamburger umsetzen lässt«.

»Der amerikanische Leviathan« heißt das Buch, das Frank M. Raddatz herausgegeben hat. »Ein USA-Lexikon, das Müller-Texte vereint, von A wie Amerika-Erfahrung bis Z wie Zweiter Weltkrieg, dazwischen Broadway, Kennedy, Vietnamkrieg. Die Sammlung stromert durch Müllers Stücke, Gedichte, Hörspiele, Essays, Reden, Interviews. Streuungen über mehrere Jahrzehnte. Das bedeutet bei Müller nicht Verlässlichkeit in Ansichten, sondern: Selbstverständlichkeit, mit der er sich fortwährend übermalt. Anstrengungslos, kanonfeindlich, mit Lüsten unsystematisch. Er liebte das Segment; er sah in jedem Bau die Splitter, die bei absehbaren Explosionen einen neuen Himmel bilden. Wo Amerika, wo USA auftaucht im Werk Müllers, hat Raddatz zugegriffen«. »Apokalypse Now«, Robert Wilsons Theater, Beobachtungen am Rand eines Swimmingpools - Denken und Dichten als Aufenthalt in der »Mördergrube des Herzens«, wie Durs Grünbein schrieb, »die mit jedem Tag tiefer wird, ausgeschachtet von Neugier und Langeweile, vom Überdruss an Gegenwart und durchschnittlicher Misanthropie«.

Das Buch offenbart den Dramatiker als grandiosen Forscher der Extreme - wider jene ordentlichen Langweiler, die an großen runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs suchen. Müllers Dialektik ist das Einverständnis mit der »Grammatik der Erdbeben«, mit den Verfinsterungen auf allen politischen Seiten der Geschichte. Hin zum Kapitalismus der Jetztzeit, »der sich erfolgreich und staunenswert von seinen vermeintlichen Totengräbern, der Arbeiterklasse, emanzipiert« hat. Wie soll man im Endzustand einer Welt noch selbstreformatorische Kräfte entwickeln? Aus dem Stampfen der Kräfte gegeneinander grollt die Poesie einer traurigen Wahrheit: Glaube an den Fortschritt in der Geschichte ist stets ein verhängnisvoller Rückschritt in der Geschichte des Denkens gewesen. Konsequenz: Man muss als Dichter Geschichte gegen den Strich bürsten - so zerzausen wir ihr das Fell, finden aber die Flöhe.

Müllers Geist lebt von der Leere, die einschlägt. Es ist die Stunde kurz vor dem Schweigen, das »der Protagonist meiner Zukunft ist«. Wer auf der Gegenschräge warte, das seien die Toten. Die immer das letzte Wort haben. Weil ihre Ewigkeit nicht nur ein Gerücht ist. »Irgendwann stirbt man und wird Landschaft.« Landschaft ist ihm in den USA wahrlich zu Bewusstsein gekommen. Diese Weite, die den Ingenieuren Grenzen setzt. »Wo Industrieanlagen verrotten in den Sümpfen. Da ist etwas ungeheuer Schönes in diesem Kapitalismus.« Ruinen und Naturkatastrophen, »die kann man eben nicht in den Supermarkt verpflanzen ... Die sind dann ein Moment der Hoffnung. Sie sind belebend.«

Sammelbände wie dieser seien gar zu probat geworden? Reader seien nichts weiter als Dienstliteratur für eine Gesellschaft der Hastenden und Sekundenoptimierer? Mag sein. Wir Kritiker, »Hunde ohne Baum« (Müller), benötigen halt den empathiescheuen Bewertungszwang, den wir für unser Talent halten. Auch Müller-Almanache gibt es mehrere - na und? Mir sind sie willkommene Beihilfe fürs suchende Bewusstsein.

Deutsche Literaturgeschichte, das erzählt auch so ein Lexikon, ist doch vor allem diese eine Erfahrung: Wer alles erst tot sein musste, um gehört, gelesen, wahrgenommen zu werden. Die Abstände schaffen den Wert. Bis Fremdheit uns anschreit aus nächster Nähe. Lies dich fest!, sag ich mir - in etwas, das unsicher hält, Gewissheiten anbohrt und die Reinheitsgebote korrekten Denkens mit dem schillernden Schmutz des unverstellten Gedankens bewirft. Lesend klarer werden im Kopf? Nein, das wäre elend. Der Unbegreiflichkeit näher und näher kommen. Wie hell sie anmuten kann!

Glaubt Müller an eine bessere Welt? Ach, dass es ihm gut geht, ist dem Menschen wichtiger als die Möglichkeit, dass er gut sei. So ist für Müller gewiss, und ich höre sein teuflisches Lachen, das bei ihm stets die kindliche, fast mädchenhafte Anmut eines ganz leisen, fast gehemmten Lächelns hatte, »dass die Revolution in Indien keine Chance hat, bevor den Indern nicht die Coca-Cola aus den Ohren quillt. Der Verkauf von Coca-Cola ist so gesehen Arbeit an der Weltrevolution.«

In Müller feiert sich eine herrliche Lizenz zur Amoral - so ist ihm Kunst auch eine heilsame »Flucht vor der Selbstanalyse«, denn derjenige, der wisse, wer er sei, der habe keinen Grund mehr fürs Weiterleben. »Der Erkenntnistrieb ist ein Todestrieb, und Kunst ist der Versuch, den Erkenntnistrieb zu betäuben.« Gegen die Langeweile der Welterklärer geht es darum, »wieder Geheimnisse herzustellen«.

Müller, geboren 1929 in Eppendorf und gestorben Ende Dezember 1995 in Berlin, war nicht zynisch. Aber wegen einer Hoffnung, die im Chor gesungen wurde, hat er nie das Gesicht seiner Verzweiflung verraten. USA, dieser Drang, immer zu lächeln. »Ganz Westeuropa ist von den Amerikanern mit Komödie überzogen worden.« Während der DDR-Alltag daran erinnere, »dass die Tragödie eine europäische Errungenschaft ist«. Doch »in den USA wird nur das gedacht, was man braucht, um einen Film zu verkaufen. Das ist die pure Barbarei.«

Die Lektüre wird zum Aufenthalt in einer Druckkammer, in die man freiwillig den Kopf schiebt - um ihn frei zu bekommen. Aber es findet Belastung statt, Bedrängung, Befeuerung. Vielleicht für eine Utopie, wie es in einem Text von 1989 heißt, die »wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit«. Müller sitzt in Kalifornien oder New York und beschreibt im Grunde, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung. Denn wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbstverwirklichung. Das bleibt das Gespenstische an der Freiheit, die mit zwei entgegengesetzten Optionen das Bewusstsein bestürmt: frei sein von etwas - oder sich frei entscheiden für etwas. Was wäre lebbar? Dichter sind nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das die Hirn- und Herzkammern sprengt.

Müller lockt auch in seinen USA-Texten ins Offene. Aber von Hölderlin ging der Weg zum Zombie, dieser »Grundfigur der amerikanischen Zivilisation«, und offen bleiben nur die Wunden. »Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen!«

Heiner Müller: Der amerikanische Leviathan: Ein Lexikon. Hrsg. v. Frank M. Raddatz. Edition Suhrkamp, 341 S., br., 18 €.

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