Recht, nicht Rache

Vor 75 Jahren begann der Nürnberger Prozess gegen die Naziverbrecher

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Foto ist bekannt: 21 Angeklagte sitzen im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes in jener Stadt, die von den Nazis als die ihrer »Reichsparteitage« gepriesen worden war und die in dem von ihnen entfesselten Zweiten Weltkrieg schwere Wunden erlitten hatte. Ein halbes Jahr nach dem militärischen Sieg über den deutschen Faschismus begann am 20. November 1945 ein Prozess, den es so noch nie gegeben hatte, der neuen Grundsätzen des Völkerrechts zum Durchbruch verhalf und die Menschen in aller Welt hoffen ließ, Verbrechen gegen den Frieden und Verletzung der Menschenrechte würden künftig verhindert, zumindest aber gesühnt und bestraft. Es schien ein Meilenstein gesetzt zu sein gegen neue Kriege, auch gegen neue Faschisten.

Der Internationale Militärgerichtshof der Antihitlerkoalition war entschlossen, wie Robert M. W. Kempner von der US-amerikanischen Anklage betonte, den »Augiasstall« zu säubern. Doch leiten ließ sich das Tribunal vom Prinzip: Recht, nicht Rache. Man war bestrebt, die Breite gesellschaftlicher und individueller Verantwortlichkeit für Faschismus, Krieg und Verbrechen an der Menschheit gerichtsnotorisch zu markieren. Das brachte nicht nur führende NSDAP-Mitglieder vor die Schranken des Gerichts, sondern ebenso Militärs und Vertreter aus Wirtschaft und Staatsbürokratie, Diplomatie und Propaganda.

Über sie wurde umfangreiches Material gesichtet. Die begangenen Verbrechen zu leugnen war unmöglich, sie zu rechtfertigen undenkbar. Dennoch bekannten sich die Angeklagten unschuldig. Zumeist verwiesen sie auf Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Martin Bormann, Joseph Goebbels. Von denen würden die Befehle stammen. Ihnen zu folgen hätten Anstand und Ehre geboten. Verbrechen - nein, die wollten sie nicht begangen haben. Sich selbst sahen sie lediglich als Ge- und Verführte, Hintergangene, Getäuschte und Betrogene, mehr Opfer denn Täter. Viel fehlte nicht und sie hätten beteuert, keine Nazis gewesen zu sein.

Aber sie waren zu solchen geworden. Auftreten und (Aus-)Reden verrieten es. Erkennbar war, was sie auf die Bahn politischen Abenteurertums gebracht hatte. Es war vor allem das Gefühl, als Deutsche zu »Höherem« bestimmt zu sein und über allen anderen zu stehen. Nationalistische und rassistische Ideen boten die Bindekraft, Demokratie und Parlamentarismus bekämpfen, anders denkende Menschen zu ermorden, andere Völker vernichten zu wollen. Immer verband sich dies mit dem Argument, alle in der feindlichen Welt, allen voran die Juden, hätten sich gegen die Deutschen verschworen. Einig waren sie sich im Streben, wenn schon nicht die ganze Welt, so doch zumindest den europäischen Kontinent zu beherrschen, wozu im Osten neues Land gewonnen und dortige Völker vertrieben oder unterworfen sein müssten. Persönlicher Ehrgeiz, auch Ruhmsucht sowie traditionelle Krieger- und Mannesehre mögen sie getrieben haben. Weder den Prozess noch eine harte Verurteilung hatten die meisten Angeklagten erwartet, waren doch ähnliche Bemühungen nach dem Ersten Weltkrieg sang- und klanglos im Sande verlaufen.

Die meisten stammten aus gesicherten bürgerlichen Verhältnissen. Es standen ihnen andere Lebenswege offen, als von ihnen gewählt und beschritten. Mit zwei Ausnahmen - Wilhelm Keitel und Fritz Sauckel - kamen sie aus Familien des Besitz- oder des Bildungsbürgertums, also aus Teilen der Gesellschaft, die gern und absichtsvoll fern von Klassenverhältnissen als deren »Mitte« bezeichnet werden. Der überwiegende Teil der Väter gehörte zur Beamtenschaft, waren Lehrer, Berufsoffiziere; einer war in der Kolonialverwaltung tätig. Zwei Väter arbeiteten als Rechtsanwälte und einer war ein erfolgreicher Kaufmann.

Hatten sie, die in solchen Verhältnissen aufwuchsen, soziale Katastrophen zu fürchten? Acht hatten Gymnasien bzw. eine Oberrealschule besucht, sechs das Abitur absolviert. Zwei absolvierten auf dem Wege zum Militärberuf Kadettenanstalten und einer erhielt seine Unterweisung auf einem Lehrerseminar. Während drei die Offizierslaufbahn einschlugen, immatrikulierten sich fünf an Universitäten. Von diesen brachten es wiederum vier bis zur Promotion; sie alle erlangten den Doktor der Rechtswissenschaft.

Nahezu jeder besaß durch Herkunft und Ausbildung feste Grundlagen für eine solide bürgerliche Existenz. Niemand sah sich dem unausweichlichen Zwang ausgesetzt, seine zweite, politische, Karriere an der Seite Hitlers zu beginnen. Das aber taten sie alle, die meisten lange vor dem 30. Januar 1933. Zu ihnen traten später Wilhelm Keitel und Alfred Jodl hinzu, die als Berufsoffiziere des kaiserlichen Heeres in die Reichswehr übernommen worden waren. Arthur Seyß-Inquart und Ernst Kaltenbrunner gelangten erst mit und nach dem »Anschluss« Österreichs in den Vordergrund der großdeutsch-imperialistischen Politik im Zeichen des Hakenkreuzes.

In nahezu allen Fällen aber wurden die definitiven Lebensentschlüsse alsbald nach dem Ende des Kaiserreichs und unter dem Eindruck der deutschen Niederlage im Weltkrieg getroffen. Viele waren 1914 begeistert auf die Schlachtfelder gezogen, um den Sieg fürs Vaterland zu erringen. Für die drei im deutschen Heer als Berufssoldaten Dienenden - Göring, Keitel und Jodl - verstand sich das von selbst. Drei weitere waren als Reserveoffiziere Kriegsteilnehmer. Bei »Gedienten« wie »Ungedienten« schlug 1918 der bis dahin nach außen gekehrte Mordspatriotismus in Hass gegen Revolution und Republik um. Sie glaubten, »Marxisten« und »Novemberverbrecher« sowie deren angebliche Anstifter, die Juden, hätten ihre Lebensideale zerstört. Sie hassten das Volk, das sich 1918 zu geschichtlicher Aktion erhoben hatte und verachteten es als »Pöbel«. Zugleich sehnten sie sich nach Zuständen, in denen diese Massen ihnen gehorchen und folgen würden. im »Kampf gegen Versailles« und für »Deutschland, Deutschland über alles in der Welt«.

Nach 1933 begann für sie ein neuer Lebensabschnitt. Ihre Karrieren führten sie an die Spitze der Staatspyramide. Neun bekleideten 1945 das Amt von Ministern oder das von Leitern oberster Reichsbehörden. Als Reichsminister fungierten Wilhelm Frick und Hermann Göring seit 1933, Hans Frank seit 1934, Joachim Ribbentrop seit 1938, Arthur Seyß-Inquart seit 1939 und Alfred Rosenberg seit 1941. Keitel war ihnen als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht gleichgestellt. Ernst Kaltenbrunner leitete das Reichssicherheitshauptamt, und Sauckel übte das Amt eines Generalbevollmächtigen für den Arbeitseinsatz aus. Sie waren die »Mit«-Führer, obgleich sie in den Verhandlungen des Gerichtshofes immer wieder Hitler und nächst ihm Himmler für die nicht zu leugnenden Mordtaten verantwortlich machten. Wortreich beriefen sie sich in Nürnberg auf ihre als edel bezeichneten nationalen Ziele, auf ihre angebliche aufopferungsvolle Liebe zum deutschen Vaterlande. Niemand von ihnen hätte den Krieg gewollt. Zu brutaler Kriegführung seien sie durch die Gegenwehr der Feinde gedrängt worden. Und sie beriefen sich darauf, dass in allen Kriegen Verbrechen geschehen und auch von der Antihitler-Koalition begangen worden seien.

Dies veranlasste den bereits zitierten US-amerikanischen Ankläger zu einer spöttischen wie sarkastischen Gegenrede: »Wenn wir nur die Erzählungen der vorderen Reihe der Angeklagten zusammenstellen, so bekommen wir folgendes lächerliches Gesamtbild von Hitlers Regierung; sie setzte sich zusammen aus: Einem Mann Nummer 2, der nichts von den Ausschreitungen der von ihm selbst eingerichteten Gestapo wusste und nie etwas vermutete von dem Ausrottungsprogramm gegen die Juden, obwohl er der Unterzeichner von über 20 Erlassen war, die die Verfolgung dieser «Rasse» ins Werk setzten. Einem Mann Nummer 3, der nur ein unschuldiger Mittelsmann war, der Hitlers Befehle weitergab, ohne sie überhaupt zu lesen, wie ein Briefträger oder ein Botenjunge. Einem Außenminister, der von auswärtigen Angelegenheiten wenig und von der auswärtigen Politik gar nichts wusste. Einem Feldmarschall, der der Wehrmacht Befehle erteilte, jedoch keine Ahnung hatte, zu welchen praktischen Ergebnissen diese führen würden. Einem Chef des Sicherheitswesens, der unter dem Eindruck war, dass die polizeiliche Tätigkeit seiner Gestapo und seines SD im Wesentlichen derjenigen der Verkehrspolizei gleichkam. Einem Parteiphilosophen, der an historischen Forschungen interessiert war und keinerlei Vorstellungen von den Gewalten hatte, zu denen im 20. Jahrhundert seine Philosophie anspornte. Einem Generalgouverneur von Polen, der regierte, aber nicht herrschte. Einem Gauleiter von Franken, der sich damit beschäftigte, unflätige Schriften über die Juden herauszugeben, der jedoch keine Ahnung hatte, dass sie irgendjemand jemals lesen würde. Einem Innenminister, der nicht wusste, was im Innern seines eigenen Amtes vor sich ging, noch viel weniger etwas wusste von seinem eigenen Ressort und nichts von den Zuständen im Innern Deutschlands. Einem Reichsbankpräsidenten, der nicht wusste, was in den Stahlkammern seiner Bank hinterlegt und was aus ihnen herausgeschafft wurde. Und einem Bevollmächtigten für Kriegswirtschaft, der geheim die ganze Wirtschaft für Rüstungszwecke leitete, jedoch keine Ahnung hatte, dass dies irgendetwas mit Krieg zu tun hätte.«

Das Nürnberger Gericht gewährte den Angeklagten einen fairen Prozess. Seine Richter bewiesen bewundernswerte Geduld. Der dennoch nicht verstummende Vorwurf, in Nürnberg sei »Siegerjustiz« praktiziert worden, ist aus machtpolitischen Interessen geboren und zielt darauf, sich den »unglaublichen Tatsachen« nicht zu stellen, für die vor Gericht massenhaft »glaubhafte Beweise« beigebracht und dokumentiert wurden. Die Richter der vier Siegermächte haben einen historischen Meilenstein aufgerichtet, hinter den es kein Zurück gibt.

Prof. Manfred Weißbecker, Faschismusforscher in Jena, verfasste mit Kurt Pätzold unter anderem das Buch »Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen«.

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