Der Forscher als Diener der Fakten

Wissenschaft als Beruf: Über das Selbstverständnis des Virologen Christian Drosten

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass Christian Drosten die diesjährige Marbacher Schiller-Rede gehalten hat (siehe »nd« vom 10. November), ist wenig verwunderlich. Der nicht öffentlichkeitsscheue Virologe wurde in den vergangenen Monaten zum preisgekrönten Podcast-Star, gern gesehenen Talkshow-Gast und begehrten Interviewpartner. Er hat die Bundesregierung und den Berliner Senat beraten, im Oktober erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Und von wem sonst hätte man bei dieser Gelegenheit eine Grundsatzrede über Wissenschaft, Pandemie und Politik erwarten können, wenn nicht von dem Forscher, der sich seit Jahren ausschließlich der Erforschung von Coronaviren widmet?

Zu den Vorläufern solcher Versuche der Selbstreflexion moderner Wissenschaft gehört Max Webers »Wissenschaft als Beruf«, erstmals 1917 vorgetragen. Auf Weber geht die Formulierung von der »Wertfreiheit« der Wissenschaft zurück, die von vielen seiner Nachfolger verherrlicht wurde. Sie nannten es kritischen Rationalismus oder logischen Empirismus. Für die marxistische Frankfurter Schule war das schlicht Ausdruck des Positivismus, also der Vorstellung, die Welt zerfalle in Einzeltatsachen, wobei die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen egal seien - mit dem betriebsblinden Fachspezialisten als passendem Typus dieser Tendenz.

Max Horkheimer setzte solcher »traditionellen Theorie« die »kritische Theorie« entgegen, und Theodor W. Adorno führte in den 60ern den berühmten »Positivismusstreit« mit bundesdeutschen Anhängern von Weber. Die meinten, Gesellschaft könne nicht verändert, nur optimiert werden. Adorno sah es anders, so wie auch die Studentenbewegung. Erkennen und bewerten, so ließe sich das Dogma der Berufswissenschaftler zusammenfassen, gehören zwei grundverschiedenen Sphären an, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Mitnichten lasse sich Vernunft einfach zweiteilen, hielt die Kritik dagegen. Noch in dem abgemilderten Begriff des »Erkenntnisinteresses« bei Jürgen Habermas hallt jene Kritik nach, die ihren äußeren Anlass in dem tätigen Mittun der Wissenschaft bei Unterdrückung, Ausbeutung, Krieg und Vernichtung fand.

Max Weber hielt mit der Trennung von Wissenschaft und Politik fest, was den Unterschied beider Sphären ausmacht. »Alle Naturwissenschaften geben uns Antwort auf die Frage: Was sollen wir tun, wenn wir das Leben technisch beherrschen wollen? Ob wir es aber technisch beherrschen sollen und wollen, und ob das letztlich eigentlich Sinn hat: - das lassen sie ganz dahingestellt oder setzen es für ihre Zwecke voraus«, heißt es in »Wissenschaft als Beruf«. Hier klingt schon die Kritik an, die Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« formulierten, nämlich die Unterordnung der instrumentellen Vernunft unter beliebige Zwecke - das Bündnis mit sozialer Herrschaft. Die beiden von den Nazis ins Exil getriebenen Autoren wollten das keineswegs nur als individuelle Frage verstanden wissen, sondern beharrten darauf, dass sich diese Tendenz quasi hinter dem Rücken der Beteiligten und jenseits ihres persönlichen Bewusstseins vollziehe.

Auffällig bei der Rede von Drosten ist: Wenn der Virenspezialist auf die Freiheit der Forschung zu sprechen kommt, meint er die des Forschers. So habe er selbst sich Gegenstand und Methode frei wählen können, auch freie Kommunikation sei gewährleistet. Das aber sagt über die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft wenig. Ebenso wie Drostens Bekenntnis, er sei ausschließlich den Fakten verpflichtet, als ob er sich darüber hinausgehender Äußerungen je gänzlich enthalten hätte. »Ich bin Virologe und Wissenschaftler. Ich bin kein Politiker«, so Drosten. »Ich kommuniziere die Fakten und helfe dabei, sie einzuordnen.« Die Fakten treten hier als wertfreies Wahrheitsereignis auf, dem durch verantwortungsvolle Kommunikation nur noch der Weg gewiesen werden muss. Doch auch in den Naturwissenschaften gibt es keine Fakten ohne Bedeutung, keine Dinge an sich ohne Begriffe.

Ist der Wissenschaftler nur ein Diener der Fakten? Drosten geht noch weiter. Er beschreibt den Forscher zudem als Kommunikationsmanager der Fakten, und zwar über die bloße Wissenschaft hinaus. Man stellt Fakten bereit, für die weitere Anwendung, die sich dem Wissenschaftler entzieht. Eine verantwortungsvolle wissenschaftsbasierte Kommunikation, wie Drosten es nennt, reagiert auf das positivistische Dilemma, dass Wertfreiheit und Verantwortungslosigkeit zusammenfallen können - wie es Friedrich Dürrenmatt in »Die Physiker« schildert. Das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, das zwar mehr nach FDP denn Schiller klingt, ist dann das Zentrum von Drostens Rede.

Doch dazu hat der Virologe kaum mehr zu sagen, als dass der Einzelne Verantwortung hat, den vom Wissenschaftler kommunizierten Fakten Folge zu leisten, ansonsten müsse der Staat seine Freiheit beschränken. »Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen«, so Drosten. Ob sich hier jemand aus freien oder unfreien Stücken verantwortlich verhält, ist nahezu nebensächlich. Dass die Frage des Rechts nicht einmal berührt, sondern stattdessen nur der geradezu grenzenlos aufblähbare Begriff der Verantwortung bemüht wird, steht paradigmatisch für eine Vorstellung vom Einzelnen und Staat, die man als technokratisches Wunschbild des liberalen Paternalismus fassen kann. Vermittlungslos springt man von der Mikrobiologie zur Einschränkung an sich unverlierbarer Rechte. Was als Kommunikation aufgerufen wird, bleibt einseitig und hat Gehorsam und Strafe schon im Schlepptau.

Gehört Drostens »pandemischer Imperativ« - »Handele in einer Pandemie stets so, als seist du selbst positiv getestet und dein Gegenüber gehörte einer Risikogruppe an« - noch in das Gebiet der Ethik oder schon in das der Verstellungskunst? Er korrespondiert jedenfalls mit der Beobachtung von Boris Groys, dass wir unseren Körper vor dem Virus schützen, was aber zur Folge hat, dass uns das Virus auf der Ebene des Geistes total infiziert. Die Frage lautet letztlich, ob das, was wir als Pandemie erleben, allein in den Bereich der Wissenschaft fällt, insofern Epidemien und Coronaviren der Welt zwar schon bekannt waren, nie aber eine solche politische Reaktion, die das tatsächlich Unbekannte und Neue der Situation ausmacht. Es obliegt dann weder Forschern noch Fakten, als Letztbegründung gesellschaftlichen Handelns zu firmieren.

Die Frage - für die sich der Positivismus seit jeher blind zeigt - ist vor allem, wie aus Fakten vermeintlich unausweichlicher Handlungszwang entsteht. Der Fakt, dass Kapitalismus oder Armut tötet, hat so etwas beispielsweise nicht auslösen können. Es passt nicht in die Medizinalisierung des Sozialen, die sich seit Jahren beobachten lässt. Und auch nicht in das Profitkalkül des Life-Science- und Tech-Kapitals. Jenseits dessen, nur Anhängsel davon zu sein, gibt es eine Freiheit, die mit der Kritik beginnt. Aufklärung verbündet sich nach Michel Foucault mit der Frage, wie man nicht regiert werden will. Von spezialisierten Fachwissenschaftlern wird man in dieser Hinsicht, wie Weber schon ahnte sowie Horkheimer und Adorno wussten, keine Antworten erwarten dürfen.

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