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Revolutionär wie ein Bausparvertrag
Die Grünen diskutieren auf ihrem Bundesparteitag über ein neues Grundsatzprogramm
Ein Satz prägt wie kein anderer die dreitägige Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen am Wochenende. »Jetzt haben wir noch Zeit für einen kurzen Film«, verkündet in regelmäßigen Abständen jemand vom Parteitagspräsidium. Dieses Mal ist es das Urgestein aus Mecklenburg-Vorpommern, Jürgen Suhr. Im nächsten Moment erscheint Bettina Jarasch auf dem Bildschirm, die mit ihrem Fahrrad die Karl-Marx-Allee im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hinunterfährt. Jarasch erzählt lächelnd von der »ökologischen Verkehrswende« und dem »Ausbau der Radwege«. »Ich will die Stadt für die Menschen umbauen und bewerbe mich als grüne Bürgermeisterin in Berlin«, sagt sie.
In der Bundeshauptstadt wird nächstes Jahr gewählt. Weil auch in anderen Bundesländern Wahlen anstehen, werden noch einige ähnliche Clips gezeigt, die Spitzenleute der Grünen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und anderswo zeigen. In anderen Kurzfilmen berichten Politiker der Grünen, warum sie in die Partei eingetreten sind. Schnell wird klar: Das ist kein Parteitag, auf dem kontroverse Debatten im Vordergrund stehen sollen. Vielmehr werden hier Bekenntnisse zur eigenen Organisation abgelegt.
Dass zeitweise eine grüne Werbesendung über den Bildschirm flimmert, liegt auch an den äußeren Umständen. Wegen der Corona-Pandemie haben die Grünen ihr Treffen ins Internet verlegt. Das Präsidium, die Bundesvorsitzenden und der Bundesgeschäftsführer sitzen oder stehen vor Kameras in einer Halle in Berlin. Abstimmungen kosten Zeit. Die Delegierten sind zu Hause und werden für ihre Redebeiträge zugeschaltet. Es gibt immer mal wieder technische Probleme. »Bin ich jetzt schon dran?«, fragt ein älterer Herr. Ein anderer hat Probleme wegen der Rückkopplung. Es sind Szenen, die vielen Menschen bekannt sein dürften, die während der Pandemie ihren Arbeitsplatz ins Homeoffice verlegt haben. Alles wirkt steril. Wegen der Stille kommt keine Parteitagsstimmung auf. Wer applaudieren will, der drückt auf seinem Bildschirm auf einen entsprechenden Button.
Zwischen den Eigenreklamesendungen über Spitzenkandidaten und »grüne Momente« reden Funktionäre und Delegierte bei ihrem Treffen über das neue Grundsatzprogramm, das auf dem Parteitag beschlossen wird. Es ist das vierte seit der Parteigründung vor rund 40 Jahren. In ihrer Eröffnungsrede am Freitagabend beschreibt die Parteivorsitzende Annalena Baerbock treffend, was die Menschen von ihrer Partei zu erwarten haben. Die Klimarevolution, welche die Grünen anpeilen, sei »so verrückt wie ein Bausparvertrag«, erklärt sie. Den großen Umbruch wird es mit ihnen nicht geben, sondern allenfalls behutsame Schritte. In der Parteibasis sind nicht alle davon begeistert. Wozu ist man schließlich bei Fridays for Future auf die Straße gegangen, wenn jetzt nicht einmal im Programm der Grünen radikale Forderungen erhoben werden?
Wie es auf Parteitagen der Grünen üblich ist, wird der Konflikt hinter den Kulissen beigelegt. Im ursprünglichen Programmentwurf hieß es, gemäß dem Pariser Klimaabkommen solle die Erderhitzung »auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden«. Die Führung der Grünen kann sich nach einer internen Diskussion mit ihren Kritikern zu dieser Formulierung durchringen: »Zentrale Grundlage unserer Politik ist das Klimaabkommen von Paris sowie der Bericht des Weltklimarates zum 1,5-Grad-Limit.« Es sei daher notwendig, »auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen«. Entscheidend sei unmittelbares und substanzielles Handeln in den nächsten Jahren. Im Kurznachrichtendienst Twitter zeigt sich unter anderem die Umweltaktivistin Luisa Neubauer zufrieden.
Eine Kontroverse um die Gentechnik wird ebenfalls entschärft. Die Parteispitze setzt sich mit einer Kompromissformulierung durch, nach der die Forschung zu neuen Verfahren nicht ausgeschlossen wird. Das Parteiestablishment schreckt auch deswegen vor allzu weitgehenden und radikalen Forderungen zurück, weil es sich nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr unterschiedliche Bündnisse offenhalten will. Der Parteitag steht unter dem Motto: »Jede Zeit hat ihre Farbe.« Die Buchstaben leuchten auf einer Leinwand in grüner Farbe. Im Hintergrund ist die Halle dunkel und schwarz. Eine Farbkombination, die in vielen Bundesländern, wo die Grünen mit der CDU zusammenarbeiten, bereits Realität ist.
Am Samstagmittag hat Koparteichef Robert Habeck seinen großen Auftritt. Er stimmt die Zuschauer und die rund 800 Delegierten schon mal auf den Wahlkampf ein. »Erstmals kämpft eine dritte Partei ernsthaft um die Führung dieses Landes«, verkündet Habeck auch mit Blick auf die Umfragen, welche die Grünen bei rund 20 Prozent sehen. Damit liegen sie allerdings deutlich hinter der Union. In der Coronakrise hat die derzeitige Bundesregierung viel Geld ausgegeben. Habeck macht sich deswegen Sorgen um die notwendigen Investitionen für mehr Klimaschutz, hat aber auch Ideen, wo das Geld herkommen soll. Die Grünen wollten Steuerflucht und Steuerbetrug bekämpfen und über eine europäische Digitalsteuer Unternehmen wie Amazon und Facebook heranziehen. Habeck macht eine kurze Pause und fügt hinzu: »Auch Menschen mit sehr hohen Vermögen und Einkommen müssen sich etwas stärker als bisher beteiligen.«
Auf analogen Parteitagen der Grünen tummeln sich zahlreiche Sponsoren und Aussteller. Das ist in abgespeckter Version auch im Internet möglich. Auf ihrer Website haben die Grünen einen »digitalen Messebereich« eingerichtet. Dort wirbt neben der Hilfsorganisation Sea-Eye und der Agentur für erneuerbare Energien unter anderem Union Investment. Dabei hatte die Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) vor zwei Jahren kritisiert, dass die Investmentgesellschaft der DZ Bank, Union Investment, auch in Firmen investiere, die Atomwaffen herstellen. Union Investment geriet unter Druck und beteuerte, dass die Bestände in den betreffenden Fonds sukzessive bis Ende 2019 abgebaut werden. Ein Zukaufverbot für die Unternehmen sei in Kraft getreten.
Wie die Werbepartnerschaft mit den Werten zusammenpasst, für welche die Grünen stehen wollen, bleibt ein Rätsel. Im neuen Grundsatzprogramm heißt es übrigens: »Es braucht ein strenges Regelwerk zur Abrüstung und zum Verbot von chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Massenvernichtungswaffen. Dazu gehört eine Unterstützung des VN-Atomwaffenverbotsvertrags. Der Anspruch ist nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt.« Zwischen programmatischem Anspruch und Wirklichkeit klafft in der Partei wohl auch weiterhin eine große Lücke
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