- Kultur
- Vor 100 Jahren wurde Paul Celan geboren
Zwischen Ehrfurcht und Fremdheit
Zum 100. Geburtstag von Paul Celan erinnert sich Klaus Reichert an seine Begegnungen mit dem Dichter
Er hatte grade sein Abitur gemacht und war auf dem Sprung zum Studium nach Marburg, als er Ende März 1958 Paul Celan in einem langen Brief seine Verehrung bekundete. Er erzählte von Günter Eich, der ihn ermuntert hatte, Gedichte zu schreiben, legte noch drei seiner lyrischen Versuche bei und kündigte einen baldigen Besuch in Paris an. Kurz darauf, Anfang April, stand er tatsächlich vor dem Haus in der Rue de Longchamp, fasste sich ein Herz und klingelte. Celan öffnete und bat ihn herein, obwohl schon andere Gäste da waren. Eine Weile blieb er der stille Zuhörer, registrierte die vielen Aschenbecher im Zimmer, entdeckte die Heidegger-Bände im Regal, aber schließlich wurde er doch ins Gespräch einbezogen. Und berichtete nun von seiner Lektüre, sprach von Benn, nannte Pound seinen Lehrmeister und begriff erst viel später den Affront, einen Anhänger der Rassentheorie so gerühmt zu haben. Celan ließ sich nichts anmerken. Er schwieg. Der Fauxpas wurde nicht geahndet.
Klaus Reichert, der Besucher von damals, hat jetzt in einem sympathischen Buch erzählt, was der Pariser Begegnung folgte, wie man gelegentlich Briefe wechselte, sich 1963 bei einer Lesung in Frankfurt am Main wiedersah und wie er nach seinem Studium Lektor in der Main-Metropole wurde, eines Tages auch zuständig für die Gedichte Celans, der gerade von S. Fischer zu Suhrkamp gewechselt war. Er erschrak, als ihm Siegfried Unseld das Typoskript des Bandes »Atemwende« in die Hand drückte. Wie diesen Gedichten gerecht werden? Er war ratlos, fühlte sich überfordert. »Ich verstand die Gedichte nicht«, schreibt er. Er las sie wieder und wieder, die Gedanken liefen in alle Richtungen, suchten nach möglichen Anlässen und Hintergründen, nach dem, was gemeint war, er stieß auf ungewöhnliche Bilder von unantastbarer Schönheit, aber auch auf Verse, die rätselhaft blieben: »Eins und Unendlich, / vernichtet, / ichten.« Diese Lyrik war anders als alles, was damals geschrieben wurde, bewundernswert, schwer zu erreichen, schwer erschließbar.
Paul Celan, heute vor 100 Jahren als Paul Antschel in Czernowitz geboren und vor 50 Jahren in der Seine gestorben, hat es zu einem allgemeinen Interesse nie gebracht. Die literarische Öffentlichkeit, meint Reichert zu Recht, nahm wenig Notiz von ihm. Bekannt wurden von den nahezu tausend Gedichten, die Barbara Wiedemann gerade in einer neuen kommentierten Gesamtausgabe gesammelt hat, vielleicht vier oder fünf, das berühmteste ist »Die Todesfuge« von 1945 mit der Schlusszeile »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«. Als Celan, 1952 eingeladen zum Treffen der Gruppe 47, seine Schöpfung im hohen Ton des einst verehrten Theaterschauspielers Alexander Moissi vorstellte, erntete er Hohn und Gelächter. Er hat diese brutale Ablehnung, erlebt wie eine Vernichtung, nie verwunden.
Im Jahr darauf die nächste Katastrophe. Von Claire Goll spektakulär beschuldigt, das Werk ihres Mannes Yvan Goll plagiiert zu haben, sah er sich als Opfer einer antisemitischen Verschwörung. Er, der den Holocaust überlebt hatte, von den Schrecknissen der Nazi-Zeit dauerhaft traumatisiert, erschöpft, mutlos, misstrauisch, ist die Angst, das Gefühl, bedroht und verfolgt zu werden, nie losgeworden. Bis zu seinem Tod kämpfte er verzweifelt um seine Integrität. Ein unbedachtes, falsches oder ausgebliebenes Wort, ein arglos genannter Name, eine missverstandene Geste genügte, um jedes Gespräch, jede Beziehung jäh zu beenden.
Man sprach mit Celan meist gehemmt und mit Auslassungen. Auch Klaus Reichert, der in seinem Buch die Begegnungen, Besuche und Unterhaltungen schildert, war ständig auf der Hut. Manchen Eindruck, manch Urteil verkniff er sich lieber, um Celan nicht zu reizen. Die Spannung zwischen Vertrauen und Vorsicht, stiller Verehrung, Irritation und Distanz hat seinen Umgang mit dem Dichter mal mehr, mal weniger dominiert. Er lernte dabei sehr schnell, dass es wenig Sinn hat, ihm zu widersprechen, ihm Verdächtigungen auszureden oder im Brief Fragen nach seinen Gedichten zu stellen. Aber er hat auch den anderen Celan kennengelernt, den freundlichen und entspannten, sogar ausgelassenen Besucher, der es genoss, geachtet und geliebt zu werden.
Der Bericht, der im zweiten Teil mit dem Briefwechsel zwischen 1958 und 1970 sowie weiteren Dokumenten ergänzt wird, stützt sich auf ein bewundernswertes Gedächtnis. Reichert hat kein Tagebuch geführt, vertraut ganz der eigenen Erinnerung (hat deshalb auch alles ausgeklammert, was er aus anderen Erzählungen weiß) und glänzt mit schönen, eindrucksvollen Episoden. An einem Septemberabend 1965 hat man mit reichlich Whisky ausgiebig gefeiert, Celan, ausgelassen, ja euphorisch, sang betrunken deutsche, jiddische und russische Revolutionslieder, auch »Die Internationale« mit sämtlichen Strophen und erschrak dann zu Tode, als sie später auf der Straße an einer riesigen blau-gelb-weißen Plakatwand der FDP vorbeikamen: »Um Gottes Willen, das sind die Farben der ukrainischen Faschisten.«
Ein andermal begann jemand im Hause Unselds plötzlich Heldengeschichten aus dem Krieg zu erzählen. Er prahlte, dass er Hitler begegnet sei und was dieser gesagt habe. Celan daraufhin zu Reichert: »Wir wollten doch gerade aufbrechen …« Schließlich der scharfe Kontrast, der Monolog des Dichters in kleiner, erstarrter und entsetzter Runde (»Die Luft war zum Schneiden«) über Heidegger, das schwärmerische, feierliche, befremdende Bekenntnis zum Philosophen und seiner Frau, beide notorische Antisemiten und Hitler-Sympathisanten.
Klaus Reichert, inzwischen zweiundachtzig Jahre alt, ist der letzte noch lebende Zeuge, der Celan aus der Nähe kannte. Er war von 1964 bis 1968 Lektor im Suhrkamp- und Insel-Verlag, danach Anglistik-Professor an der Universität in Frankfurt am Main und Leiter des dortigen Renaissance-Instituts,. Er hat Bücher und Gedichtbände veröffentlicht, Lewis Carroll übersetzt, James Joyce herausgegeben und für S. Fischer die große, wunderbare Ausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher Virginia Woolfs ediert.
In Reicherts Erinnerungen an Celan ist die »Ehrfurcht vor dem Genie«, die Hochachtung vor dieser Dichtung mit ihren ungeheuren Wortwelten, den nie gesehenen und faszinierenden Bildern genauso dokumentiert wie ihre Rätselhaftigkeit, die Fremdheit, die sich trotz beglückender Momente in all den Jahren nicht verlor. Es ist eine aufrichtige, sehr persönliche, manchmal auch selbstkritische Erzählung mit aufschlussreichen Blicken in die Zeitgeschichte geworden.
Damals, als Reichert Celans Band »Atemwende« für den Druck vorbereitete, wurden die Debatten vom Vietnamkrieg der USA beherrscht, von Protesten, Demonstrationen und den Einmischungen kritischer Autoren. Viele von ihnen publizierten im Suhrkamp-Verlag. Plötzlich gab es auch in der Bundesrepublik wieder eine politische Dichtung. Man las Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried, diskutierte die Aufsätze Martin Walsers und stritt über die Ansichten von Peter Weiss. Celan spielte keine Rolle. Ob er von alledem überhaupt Notiz nahm, hat Reichert nicht erfahren.
Klaus Reichert: Paul Celan. Erinnerungen und Briefe, Suhrkamp Verlag, 297 S., geb., 28 €.
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