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Corona lässt Osten nicht ungeschoren
In der zweiten Welle sind auch in den »neuen« Bundesländern viele Kreise Hotspots
Peter Kuras mag sich jüngst als Glückspilz gefühlt haben - für einen Moment. Der 62-jährige ist Oberbürgermeister von Dessau-Roßlau - jener kreisfreien Stadt in Sachsen-Anhalt, die zuletzt die niedrigsten Corona-Fallzahlen in Deutschland aufwies. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete vergangene Woche für Dessau-Roßlau zwischenzeitlich einen Inzidenzwert von nur zehn Infektionen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen. Mittlerweile ist der Wert zwar wieder gestiegen, doch im bundesweiten Vergleich steht die 80 000-Einwohner-Stadt immer noch sehr gut da.
Für den FDP-Politiker Kuras ist die öffentliche Aufmerksamkeit spürbar ungewohnt. Sein Sprecher Carsten Sauer teilte auf »nd«-Anfrage mit, die Presseanfragen häuften sich so sehr, dass der Oberbürgermeister gerade keine Zeit für ein persönliches Gespräch habe. Per Mail richtete Sauer aus, man sei natürlich höchst erfreut über die Umstände, mahne aber weiter zur Vorsicht: »Wie fragil ein solcher Wert ist, zeigt die tägliche Entwicklung, zwischenzeitlich erreichten wir bereits auch einen Wert von knapp unter 50.« Wie wahr: Am Sonntag betrug der Wert schon wieder 41,2.
Die zweite Welle der Pandemie hat Deutschland fest im Griff - und mittlerweile auch den Osten, der von der ersten Welle im Frühjahr noch weitgehend verschont geblieben war. Jedoch sind nicht alle ostdeutschen Regionen gleich stark betroffen. Die Karte des RKI zeigt Ostdeutschland als Flickenteppich von weiß bis dunkelrot, von weniger bis stärker betroffenen Landkreisen also.
Am Sonntag wies der Landkreis Potsdam-Mittelmark mit 23,5 den niedrigsten Inzidenzwert Ostdeutschlands auf. Zugleich gibt es besonders in Sachsen mehrere Hotspot-Regionen, die von der zweiten Welle besonders heftig erfasst worden sind, nämlich die ländlich geprägten Kreise Bautzen, Görlitz und Erzgebirge. Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil das Virus lange Zeit deutlich stärker in Großstädten als auf dem Land kursierte. Insgesamt fällt beim Blick auf die Deutschlandkarte des RKI eine Nord-Süd-Differenz innerhalb des Ostens auf.
Woher die Unterschiede kommen, kann bisher niemand genau erklären. Die Ursachenforschung gestaltet sich ohnehin schwierig, weil die Zahlen mittlerweile so hoch sind, dass für viele Fälle keine Infektionsquellen mehr ermittelt werden können. Auch in Dessau-Roßlau will man sich nicht an Spekulationen beteiligen: »Niemand kann genau sagen oder nachweisen, woran diese Entwicklung geknüpft ist«, teilt Pressesprecher Sauer mit. Ein Patentrezept scheine es nicht zu geben. Man gebe die gleichen Handlungsempfehlungen und ergreife die gleichen Maßnahmen wie andere Städte auch.
Auch die hohen Infektionszahlen in Teilen Sachsens lassen sich nur schwer nachvollziehen. Wo keine Infektionsquellen mehr ermittelt werden können, werden kulturelle Erklärungsmuster bemüht: die engen Familien- und Freundschaftsbande auf dem Land im Gegensatz zur anonymen Stadtgesellschaft zum Beispiel. Klar ist: Das Coronavirus verbreitet sich dort am stärksten, wo viele Risikokontakte stattfinden, also Begegnungen ohne Abstand, ohne Maske, in Innenräumen, länger als 15 Minuten.
Klar ist auch: Menschen, die die Pandemie weniger ernst nehmen, vielleicht sogar verharmlosen, dürften sich auch nicht an die Empfehlung der Bundesregierung halten, die privaten Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Besteht also ein Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie dem Hang zum »Querdenken« und hohen Infektionszahlen? Dazu gibt es keine valide Datenlage, aber Indizien. »In den sächsischen Gebieten mit hoher Inzidenz wird auch die AfD stärker gewählt«, sagt der Politikwissenschaftler Michael Lühmann gegenüber »nd«.
Nach Ansicht von Lühmann gibt es in den Räumen Bautzen, Görlitz und Erzgebirge eine verstärkte Tendenz zu antidemokratischen Positionen in der Bevölkerung: »Die Leute wehren sich nicht in erster Linie gegen die Maßnahmen, sondern sie greifen Demokratie und Staatlichkeit an.« Solche Haltungen existierten unabhängig von Corona, könnten nun aber die Tendenz zur Nichteinhaltung von Hygienemaßnahmen verstärken. Dennoch könne man nicht sicher sagen, ob solche Tendenzen tatsächlich ein Grund für hohe Infektionszahlen seien.
Auch Silvio Lang, Linke-Vorsitzender im Landkreis Bautzen, schätzt die »Corona-Leugnerszene« in seiner Region als vergleichsweise groß ein und erinnert an die Proteste an der B96, wo jeden Sonntag wütende Menschen mit Reichsflaggen scheinbar gegen Corona-Maßnahmen, aber vor allem gegen Demokratie und Rechtsstaat demonstrieren. Auch würden Corona-Infektionen besonders stark in sorbisch geprägten Gemeinden auftreten. Die Sorben sind eine Minderheit, deren Angehörige überdurchschnittlich oft aktive Kirchenmitglieder sind. Lang meint, sie seien »zum Großteil wie die gesamte Gesellschaft vernünftig, haben aber beispielsweise noch lange in voll besetzen Kirchen Gottesdienst gefeiert, wo bekanntermaßen viele Infektionen auftreten können«.
Der Landkreis Bautzen erklärte gegenüber »nd«: »Zu den Gründen zählen insbesondere jene Situationen, in denen man sich vermeintlich sicher fühlt: die Kaffeerunde auf Arbeit, der Besuch von Freunden und Verwandten.« Dabei werde oft auf das Abstandhalten und Masketragen verzichtet. Eine Statistik über »Querdenker« führe man nicht. Viele würden den Ernst der Lage indes erst erkennen, wenn sie selbst oder eine Person im »näheren Umfeld« betroffen seien.
Im bundesweiten Vergleich steht Sachsen jedenfalls ziemlich schlecht da. Der Inzidenzwert beträgt dort aktuell durchschnittlich 176,74. Der Freistaat liegt damit an zweiter Stelle nach Berlin. Im Frühjahr lagen alle ostdeutschen Länder auf den hinteren Plätzen. Die Landesregierung reagierte vergangene Woche und verschärfte die Hygienemaßnahmen: Seit Mittwoch gilt Maskenpflicht auch auf Parkplätzen von Supermärkten und vor Kitas und Schulen, der »Kleine Grenzverkehr« in die Nachbarländer Tschechien und Polen ist ausgesetzt.
Ob das ausreicht, werden die kommenden Tage zeigen. Am Mittwoch treffen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Chefs der Länder erneut, um die aktuelle Situation zu bewerten und die Maßnahmen gegebenenfalls anzupassen. Eine Verschärfung insbesondere der Kontaktbeschränkungen steht im Raum. Fakt ist zumindest eines: Die noch im Frühjahr umhergeisternde Theorie, die Ostdeutschen seien eine Horde von Disziplinfanatikern, die - geprägt durch eine eisenharte DDR-Zeit, die keine Abweichungen und Sonderwege erlaubte - staatliche Autorität leichter akzeptieren könnten, ist mittlerweile ein Fall für die Märchenbücher.
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