Wussten sie, was sie tun?

Thüringer Staatskanzlei und Landessportbund haben eine Textsammlung zum DDR-Doping vorgelegt. Nun folgt eine weitere Studie: Hätten dopende Sportler auch anders gekonnt?

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 7 Min.

Etwa 30 Seiten stark ist die Broschüre, in der zum Beispiel die Geschichte von Sigurd Hanke erzählt wird. Der sechsfache DDR-Meister über verschiedene Schwimmdisziplinen schluckte ab 1981 Dopingmittel. »Was es alles für Substanzen gab, wussten wir nicht«, sagt Hanke in dieser Textsammlung über sich und Sportler wie ihn. Eigentlich habe er nur gewusst, dass das, was er bekam, irgendwas mit männlichen Hormonen zu tun hatte. Außerdem, dass er bisweilen Mittelchen bekam, die eine so große Wirkungen hatten, dass er damals schon misstrauisch wurde. »Bei Erkältungen gab es Spritzen, die hießen ›Cocktail‹«, wird Hanke in der Broschüre zitiert. »Wer weiß, was da alles drin war - jedenfalls war man nach unnormal kurzer Zeit wieder fit fürs Training.«

Der Titel der Broschüre: »Gemeinsam aus dem Schatten ins Licht«. Sie ist vor wenigen Tagen in Erfurt vorgestellt worden und geht auf eine Tagung 2019 in Bad Blankenburg zurück: »Doping und seine Folgen: Einsatz leistungssteigernder Mittel im Leistungssport der ehemaligen DDR und dessen Auswirkungen« hieß sie. Entsprechend kreisen auch die 30 Seiten der Veröffentlichung um genau diese Zusammenhänge.

Ziemlich in der Mitte der Broschüre, nachdem Hanke aufgezählt hat, welche chemischen Substanzen ihm in den 1980er Jahren als DDR-Spitzensportler ganz sicher oder vielleicht verabreicht worden waren - unter anderem Paracetamol, Analgin, Ibuprofen, Somatotropin, Thioctacid, Vitamin C, Kalium-Magnesium-Adipat, Dynvital-Pulver - stellt er sich eine Frage. Sich, aber auch dem Leser seiner Schilderungen. Es ist eine der ganz entscheidenden Fragen für all jene, die sich mit dem Doping im DDR-Sport beschäftigen. Eine, die aus Sicht vieler Menschen bis heute noch nicht abschließend beantwortet ist: »Bin ich ein Opfer?«

Ein neuer Höhepunkt der Aufarbeitung des DDR-Sports

Das kleine Heft markiert einen Höhepunkt der Aufarbeitung des Dopings im DDR-Spitzensport, ganz sicher in Thüringen und vielleicht sogar in ganz Ostdeutschland. Denn in den vergangenen Jahren ist in der Sportszene des Freistaats intensiv darüber gesprochen und noch viel mehr darüber gestritten worden, wie im Arbeiter- und Bauernstaat mit sportlich unfairen Mitteln die Leistung von Athleten gesteigert wurde und welche Folgen das für die Betroffenen hatte. Hanke zum Beispiel sagt, er leide bis heute wegen des Dopings unter anderem unter Muskel- und Bänderschmerzen. Vielleicht nicht für alle verständlich, in der Fülle aber sehr beeindruckend, liest sich die Krankenakte: »Achillessehnenruptur rechts, Quadrizepssehnenruptur links; außerdem Cervicolumbalsyndrom, BWS-Blockierung mit Längsbandversteifung, LWS-Gefügelockerung, ISG-Arthrose, femoropatellares Schmerzsyndrom, Plantarfaszienkontraktur beidseitig mit Metatarsalgie beidseitig«.

Ganz einfach war diese Aufklärungsarbeit nie, weil sie stets begleitet worden war vom Vorwurf vor allem an die Spitze des Thüringer Landessportbundes (LSB), die Aufklärung eher zu verschleppen, als sie zu unterstützen. Als Peter Gösel noch Präsident des LSB und Rolf Beilschmidt dessen Hauptgeschäftsführer war, überzogen sich die beiden Männer auf der einen und zum Beispiel die Vorsitzende des Dopingopferhilfevereins, Ines Geipel, auf der anderen Seite immer wieder mit gegenseitigen Anfeindungen.

Neue Qualität seit 2014

Ganz falsch waren die Vorwürfe an den LSB lange Zeit nicht. Denn überhaupt erst seit Mitte der 2010er Jahre findet so etwas wie eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Thema auch durch den Sportverband statt. Als der LSB sich dem Thema langsam annäherte, war die DDR also schon mehr als zwei Jahrzehnte lang untergegangen. Doch nicht zuletzt, weil sich die politische Struktur in Thüringen 2014 nachhaltig verändert hatte, muss man inzwischen anerkennen, dass in den vergangenen fünf, sechs Jahren viel Aufklärungsarbeit zu diesem Themenkomplex geleistet worden ist.

Seit in der Thüringer Staatskanzlei mit Bodo Ramelow der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland sitzt, betreibt die Landesregierung die Aufarbeitung von DDR-Geschichte in all ihren Facetten mit besonders großem Elan - getrieben nicht zuletzt von der Angst, ihr Chef könnte in den Ruf geraten, die DDR zu glorifizieren. Also lässt Ramelow seither keine Gelegenheit aus, DDR-Unrecht als solches zu geißeln. Zudem hat er in der Staatskanzlei ein Referat damit beauftragt, jegliche Aufarbeitungsbemühungen zu unterstützen, oder neu zu initiieren, wie etwa im Fall des 1981 in Gera in einer Stasizelle verstorbenen Matthias Domaschk.

Das hat einen Sog erzeugt, dem sich der LSB nicht entziehen konnte, auch wenn bei Gösels Nachfolger an der Spitze des LSB, Stefan Hügel, mancher Nebensatz fällt, der die Kritiker des Verbandes nur in ihren Vorbehalten bestätigt, dort habe man die Sache noch immer nicht wirklich verstanden. Als Ramelow zum Beispiel bei der Vorstellung der Broschüre mahnt, die mutmaßlichen Machenschaften des Erfurter Dopingarztes Mark S. seien ein Ausweis dafür, dass man in Thüringen auch heute »nicht frei« von den Machenschaften des Dopings sei, da widerspricht ihm LSB-Präsident Hügel kurze Zeit später freundlich, aber bestimmt. »Wir stellen uns der Vergangenheit, aber wir glauben, dass wir aktuell mit dem Fall Mark S. nichts zu tun haben«, sagt Hügel. Der Mann wohne nur »unglücklicherweise« in der Landeshauptstadt.

Mark S. muss sich derzeit vor dem Landgericht München verantworten, weil er jahrelang Winter- und Radsportathleten gedopt haben soll. Er hat inzwischen vor Gericht ein umfassendes Geständnis abgelegt und davon gesprochen, er habe die Sportler aus Überzeugung gedopt.

So sehr aber in den vergangenen Jahren das Wie des DDR-Dopings und die gesundheitlichen Folgen dessen für die betroffenen Athleten thematisiert worden sind, so offen ist dabei die Opferfrage geblieben. Das ist nicht zuletzt für die Sportler selbst oft unbefriedigend, was sich auch daran ablesen lässt, wie sich Hanke selbst seiner eigenen Frage nähert - und sich und dem Leser zunächst eine klare Antwort darauf doch schuldig bleibt: »Ich habe von den Dopingsubstanzen gewusst und davon, dass ich sie irgendwie bekam.« Er habe sie immerhin auch nicht heimlich genommen. »Die blauen Tabletten wurden offen gegeben.« Zudem sei er - wie so viele junger Männer - in dieser Lebensphase risikobereit gewesen.

Wie schwer wäre es gewesen, Nein zu sagen?

Aber Hanke beschreibt dort eben auch, welche Repressionen ihm drohten oder welche Repressionen er zumindest fürchtete, wenn er sich dem staatlich verordneten Doping verweigerte. »Wenn man gegen den Willen der Sportführung der DDR durchsetzte, mit dem Sport aufzuhören, dann fielen diese Athleten oft in Ungnade: Die Schulbildung wurde schlechter, das Studium wurde häufig unterbunden oder gestört, dazu gab es Sippenhaft.« Außerdem seien solche dann unliebsamen Sportler auch später ausführlich bespitzelt worden. Hanke stellt sich deshalb eine weitere Frage, die eng mit der Frage danach zusammenhängt, ob er ein Opfer war: »Hätte ich es gewollt, bei diesen Folgen aufzuhören?«

Hanke, der als 14-Jähriger beim SC Turbine Erfurt zum Leistungssport gekommen war und heute als Arzt arbeitet, war also offenbar vieles. Und das gleichzeitig, nebeneinander. Opfer: ja. Mitwisser: ein bisschen. Mitläufer: ganz bestimmt.

Es ist dieses komplexe Nebeneinander von verschiedenen Rollen, die DDR-Sportler während ihrer aktiven Zeit hatten, die nun eine weitere Studie aufarbeiten soll, die gemeinsam vom LSB und der Staatskanzlei in Auftrag gegeben worden ist. Aufbauend auf das Symposium und die Broschüre soll sie ein weiterer Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Doping der Vergangenheit sein, in der Hoffnung, so auch Doping in der Gegenwart verhindern zu können, das ohne Zweifel noch immer einen Platz im Breiten- und erst recht im Spitzensport hat.

Neue Studie bis März 2022

Im Rahmen dieser Studie wollen die beiden Historiker René Wiese und Jutta Braun bis März 2022 im Detail und anhand von mehr als Einzelfällen ganz zentral herausarbeiten, wie facettenreich Doping im DDR-Sport war: Wo und unter welchen Umständen wurden Sportler belogen oder getäuscht?Wo machten sie freiwillig mit? Wo wurde Druck auf sie ausgeübt? Wie wurde ihr Vertrauen zu den Trainern ausgenutzt? Wie schoben sich Trainer und Ärzte die ethische Verantwortung für ihr Tun gegenseitig hin und her?

Alles in allem werden die beiden Historiker also nach den Handlungsspielräumen des Einzelnen innerhalb einer Diktatur suchen. Die Suche ist längst nicht nur für den Sport, sondern für alle Bereiche des Lebens in der DDR wichtig. In den fragenden Worten Wieses: »Gab es möglicherweise doch mehr Individualität als bisher angenommen?« Gut möglich, dass sich am Ende dieser Untersuchung verschiedene Typen von dopenden Sportlern herauskristallisieren, die vorhandene Spielräume ganz unterschiedlich ausnutzten - und die damit mal mehr und mal weniger eindeutig Opfer waren.

Hanke immerhin gibt am Schluss seiner Ausführungen in der Broschüre doch noch eine ganz klare Einschätzung dazu ab, wie er sich selbst sieht: überwiegend als Opfer. »Hatte man innerhalb des Leistungssports überhaupt eine freie Wahl? Nein«, sagt er dort. Das totalitäre DDR-System sei »eindeutig« so aufgebaut gewesen, dass eine solche Verweigerung einer »sozialen Selbstzerstörung« gleich gekommen sei. »Für mich jedenfalls kam es nicht infrage - ich war kein Märtyrer.«

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