Das Ende des Bellizismus

Krieg und Frieden im Werk von Friedrich Engels

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 6 Min.

Die längste Zeit ihres politischen Lebens sind Karl Marx und Friedrich Engels das gewesen, was man heute wohl »Bellizisten« nennen würde. Wie fast alle ihre Zeitgenossen folgten sie dem Denken des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Diese galten als beherrschbar, der Krieg deshalb als führbar.

1848/49 forderten Marx und Engels einen deutschen Volkskrieg gegen den russischen Zaren. Er war in ihren Augen der Rückhalt aller reaktionären Regimes und - nach der Niederwerfung des aufständischen Ungarn durch seine Armee - der Schlächter der Revolution. Der britischen Regierung warf Engels vor, dass sie den Krimkrieg (1853-1856) nicht bis zur endgültigen Niederlage Russlands führte - aus Sorge um das europäische Gleichgewicht und aus Furcht vor revolutionären Konsequenzen. Einen ähnlichen Vorwurf machte er lange Zeit den Nordstaaten im US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865). Er hielt den Zaren für den politischen Paten von Otto von Bismarck: Der konnte sich immer darauf verlassen, dass die russische Monarchie ihn heraushauen werde, sollte er jemals durch eine deutsche Revolution ernsthaft in Gefahr geraten. Auch im außenpolitischen Kalkül des deutschen Kanzlers war der Zar eine feste Größe. Er suchte alles zu vermeiden, was diesen an die Seite Frankreichs treiben würde. Gegen Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts geriet er damit in Schwierigkeiten.

Hier lohnt es sich, einen Blick in das neueste Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty (»Kapital und Ideologie«, 2020) zu werfen. Dieser wies nicht nur nach, dass die Ungleichheit in Frankreich in jener Zeit ähnlich hoch war wie heute, sondern dass das reichste Zehntel und auch Hundertstel der französischen Gesellschaft sein Vermögen vor allem im Finanzsektor, und da wieder in Staats- und Unternehmensanleihen investiert hatte. Gern wurden diese an das kapitalhungrige Russland, das sich gerade in seiner industriellen Revolution befand, vergeben. So kam es zu einer ökonomischen Verflechtung zwischen der Französischen Republik und dem autokratischen Zarenreich.

Nun verlassen wir wieder Pikettys Überlegungen und wenden uns erneut Bismarck zu. Gegen ökonomische Gewichtsverlagerungen war seine Diplomatie machtlos. Als nach seinem 1890 erfolgten Sturz ein 1887 geschlossenes Neutralitätsabkommen, der sogenannte Rückversicherungsvertrag, mit Russland nicht verlängert wurde, geriet Bismarcks System ins Wanken. 1892 schlossen das Zarenreich und Frankreich eine Militärkonvention. Engels war alarmiert. Wie Bismarck wurde er geplagt vom »cauchemar des coalitions«, dem Alptraum einer russisch-französischen Allianz und einem daraus resultierenden militärischen Konflikt. Der Sieg eines russisch-französischen Bündnisses hätte die damals stärkste Abteilung der internationalen Arbeiterbewegung vernichtet: die deutsche Sozialdemokratie. Ihre französischen Genossinnen und Genossen wären unter dem Diktat des Zaren und der einheimischen Bourgeoisie als Landesverräter verfolgt worden. Kam es zum Krieg, konnte die deutsche Arbeiterbewegung sich nicht neutral verhalten, sondern musste gegen die feindliche Allianz kämpfen, vielleicht mit der Aussicht, dass eine Niederlage Russlands dort zu einer Revolution führen werde (wie ja 1917 tatsächlich geschehen).

Diese Überlegungen waren das letzte Aufbäumen des revolutionären Bellizismus - und zugleich sein Ende, das zudem eine fundamentale Wende im Denken von Friedrich Engels herbeiführte. Sein Studium der neuesten Waffentechnik brachten ihn zu der Erkenntnis, dass das Zeitalter der begrenzten und insofern führbaren militärischen Auseinandersetzungen vorbei war. Jetzt eröffnete sich die Perspektive eines grauenhaften Weltkriegs. Im März 1889 schrieb Engels an Paul Lafargue, einen Schwiegersohn von Karl Marx: »Was einen Krieg betrifft, so ist er für mich die schrecklichste aller Möglichkeiten. Sonst würde ich mich den Teufel um die Launen von Madame Frankreich scheren. Aber ein Krieg, in dem es zehn bis 15 Millionen Kämpfende geben wird, der, allein um sie zu ernähren, eine noch nie dagewesene Verwüstung mit sich bringen wird; ein Krieg, der eine verstärkte und allgemeine Unterdrückung unserer Bewegung, eine Verschärfung des Chauvinismus in allen Ländern und schließlich eine Schwächung mit sich bringen wird, zehnmal schlimmer als nach 1815, eine Periode der Reaktion als Folge der Erschöpfung aller ausgebluteten Völker - und alles dies gegen die geringe Chance, daß aus diesem erbitterten Krieg eine Revolution hervorgeht - das entsetzt mich. Besonders wegen unserer Bewegung in Deutschland, die niedergeworfen, zermalmt und mit Gewalt vernichtet würde, während der Friede uns den fast sicheren Sieg bringt.«

Gewiss: Auf Dauer wäre eine solche Gefahr dadurch zu bannen gewesen, dass eine proletarische Revolution dem Weltkrieg zuvorkam. Die aber ließ sich nicht von heute auf morgen machen. 1893 sah sich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion einer Militärvorlage der Regierung gegenüber, die weitere Aufrüstung vorsah. August Bebel erbat von Engels Argumentationshilfe für die Debatte. Dieser schrieb daraufhin eine Artikelserie »Kann Europa abrüsten?«. Hier schlug er die Ersetzung der stehenden Heere durch Milizen vor. Die Staaten blieben dadurch verteidigungs-, aber nicht mehr angriffsfähig.

Als Friedrich Engels 1895 starb, war die Welt diesem Ziel keinen Schritt nähergekommen. Das Wettrüsten ging weiter. 1907 verabschiedete der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart eine Resolution, die über Engels’ Überlegungen, was im äußersten Fall zu tun sei, insofern hinausging, als er nicht nur die Optionen der deutschen Sozialdemokratie, sondern der sozialistischen Weltbewegung ins Auge fasste:

»Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.«

Das war es. Die hier zitierte Passage war von Rosa Luxemburg, dem Bolschewik Wladimir I. Lenin und dem Menschewik Julius O. Martov gemeinsam in die zunächst zahmere Entschließung eingebracht worden. Sie hatten Engels weitergedacht.

Am 4. August 1914 dagegen stimmte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion für die Bewilligung der Kriegskredite. Publizisten der Partei beriefen sich auf frühere Äußerungen von Engels über die Zwangslage, in die die deutsche Arbeiterbewegung im Fall eines Konflikts mit einer französisch-russischen Allianz geraten könne. Sie hatten Folgendes vergessen oder nie verstanden oder wollten es jetzt nicht mehr wissen:

Erstens: Das probateste Mittel gegen den Ausbruch eines Krieges war die ihm zuvorkommende proletarische Revolution.

Zweitens: Blieb sie aus, war das darauffolgende Gemetzel schon Ergebnis einer Niederlage der Arbeiterbewegung. Erst danach befand diese sich in der von ihm gefürchteten Zwangslage. Das größte anzunehmende Unglück war dann schon eingetreten.

Drittens: In seinem politischen Testament von 1895, einer Einleitung zur Neuauflage von Marx’ Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, hatte Engels darauf hingewiesen, dass Marx und er in der Vergangenheit manchmal geirrt hätten. Dann kam es darauf an, weiterzudenken. Dies hatten später Lenin, Luxemburg und Martov - was das Verhalten bei Ausbruch eines Kriegs anging - getan. Ebert, Scheidemann und Noske hielten es dagegen für günstiger, beim Personenkult um Engels zu bleiben, damit sie guten Gewissens tun konnten, was der Kaiser wollte.

Der Marburger Politologe Georg Fülberth, Jg. 1939, hat bei Wolfgang Abendroth promoviert und lehrte von 1972 bis 2004 als Professor an der Universität Marburg; er veröffentlichte jüngst unter anderem beim Kölner Verlag PapyRossa »Das Kapital kompakt«, Studien zu Sozialismus, Kapitalismus und Marxismus sowie ein Porträt von Friedrich Engels.

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