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Tatbeitrag: Mitmarschieren
Mehr als drei Jahre nach dem Hamburger G20-Gipfel beginnt ein Pilotprozess gegen fünf Jugendliche
Dabei sein ist alles: Gleich diesem Motto verfährt die Hamburger Staatsanwaltschaft im am Donnerstag beginnenden Pilotverfahren des »Rondenbarg-Komplexes«. Dreieinhalb Jahre nach dem G20-Gipfel wird vor der Großen Jugendstrafkammer 27 des Landgerichts die Hauptverhandlung gegen fünf Beschuldigte aus Halle, Stuttgart, Mannheim und dem Bonner Raum eröffnet, insgesamt liegen 73 Anklagen vor. So groß der Umfang, so schwer das Geschütz: Landfriedensbruch, Angriff auf Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung sind einige der Vorwürfe. Allein: Den Angeklagten wird keine individuelle Handlung zur Last gelegt. Vielmehr hätten sie »Tatbeiträge durch das Mitmarschieren in geschlossener Formation geleistet«. Wie in Hooliganprozessen ist von »ostentativem Mitmarschieren« und »psychischer Beihilfe« die Rede.
»Mitgefangen, mitgehangen«, kommentieren dies betroffene Mitglieder des ehemaligen ver.di-Bezirksjugendvorstands NRW-Süd in einer Pressemitteilung. Werner Rätz, Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, sprach gegenüber »nd« von einer »verqueren Rechtskonstruktion«. Es gehe darum, »dauerhaft von der Teilnahme an Demonstrationen abzuschrecken«, so Rätz, der als Aktivist in die Proteste eingebunden war. Bereits 2017 sprach Franziska Nedelmann, stellvertretende Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, von »Feindstrafrecht«. So würden »ganze Personengruppen außerhalb der Rechtsordnung gestellt«.
Rückblick: Am Morgen des 7. Juli 2017 wurden am Rondenbarg mindestens 14 Demonstrierende unter Einsatz von Wasserwerfern und Schlagstöcken schwer verletzt. Einige seien über ein Geländer gestürzt, als sie vor der stürmenden Polizei davonliefen, hieß es in Medienberichten. Mehrere von ihnen hätten demnach Knochenbrüche erlitten. Die Polizei behauptete, aus dem Aufzug heraus massiv beworfen worden zu sein. Es war jedoch ein Polizeivideo selbst, dass Zweifel an der Erzählung aufkommen ließ.
Legende sind die Worte des damaligen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD), wonach es »Polizeigewalt nicht gegeben« habe. Sein Parteikollege Urs Tabbert, justizpolitischer Sprecher der Bürgerschaftsfraktion, betonte nun, die »strafrechtliche Aufarbeitung« müsse »gründlich zu Ende geführt werden«. Auch Lena Zagst (Die Grünen) drängte auf »abschließende Aufklärung«. »Wenn es etwas aufzuarbeiten« gebe, so die betroffene Carlotta Grohmann im »nd«-Gespräch, »dann die Polizeigewalt«. Grohmann gehörte 2017 der ver.di-Jugend NRW-Süd an. Beim G20-Gipfel wollten sie »für eine Welt jenseits von Krieg und Klimakollaps« einstehen. Am Ende »war fast unser gesamter Jugendvorstand festgenommen«. Sie berichtet von Demütigungen in der Gefangenensammelstelle, von Containern ohne Betten, von Knäckebrot und begleitetem Toilettengang. Mitunter seien sie erst nach 30 Stunden einem Richter vorgeführt worden, zwei junge Gewerkschafter habe man »unter fadenscheinigen Gründen« eine Woche festgehalten.
Zu einem dezentralen Aktionstag vom vergangenen Samstag meldeten sich die fünf Angeklagten mit einem Grußwort. Man dürfe sich durch »wöchentliche Fahrten nach Hamburg« inmitten von Studium oder Ausbildung »nicht verrückt machen lassen«. Hinter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stehe die Absicht, »uns im Gerichtssaal zu isolieren«. Gleichwohl wollen sie den Prozess »kämpferisch führen«. Denn dessen Ausgang entscheide mit darüber, »inwieweit das Demonstrationsrecht beschnitte« würde. Schließlich sei es »legitim und notwendig«, gegen »Umweltzerstörung, Kriege und Abschottung« auf die Straße zu gehen.
Was oft ausgeblendet wird: Zum G20-Gipfel gab es vielfältigen Protest, von internationalistischen Gruppen über Attac bis zur DGB-Jugend, von Autonomen über antirassistische Initiativen bis zu Greenpeace. An einer Großdemo nahmen über 75 000 Menschen teil. Am Millerntor stellte der FC St. Pauli Räume für ein alternatives Medienzentrum zur Verfügung. Kirchengemeinden öffneten Grundstücke zum Campen. Auf einem Alternativgipfel wurden zwei Tage lang in 70 Workshops Fragen globaler Solidarität diskutiert. Für musikalische Begleitung sorgten etwa Konstantin Wecker und der Rapper Samy Deluxe. Für die Prozesse sei »entscheidend, dass davon viel nachhallt«, so Nils Jansen, bis 2018 geschäftsführender ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd. Denn »neben unseren politischen Motiven« gelte es, »das Versammlungsrecht zu verteidigen«.
Im Oktober erklärte die Anwältin Gabriele Heinicke auf einer Veranstaltung, im Falle einer Verurteilung werde der 1970 abgeschaffte »Landfriedensparagraf« faktisch wieder eingeführt. (»nd« berichtete) Damals seien durch die Abschaffung Tausende unter dem Druck der außerparlamentarischen Opposition amnestiert worden. Ein Appell zu mehr Solidarität. Gebildet hat sich das Bündnis »Gemeinschaftlicher Widerstand« mit rund hundert Initiativen, darunter Antifa-Gruppen, die Linke/SDS und dem Flüchtlingsrat Hamburg. Die Solidaritätsorganisation Rote Hilfe organisiert Öffentlichkeitsarbeit und sammelt Spenden. Doch es scheint noch Luft nach oben. Ob sie noch einmal aufstehen, der DGB, der FC St. Pauli, der Pfarrer und die Pastorin? Warum eigentlich nicht: eine Juli Zeh oder ein Ewald Lienen mit Protestnoten.
Die Anklage ins Leere laufen zu lassen, gilt als Maximalziel der Betroffenen. Zuversicht gibt ihnen: Auch dem ebenfalls am Rondenbarg festgenommen Fabio V. wurde keine konkrete Handlung vorgeworfen. Fünf Monate saß der italienische Azubi in Untersuchungshaft, sein Prozess platzte Anfang 2018 - vordergründig wegen Schwangerschaft der Richterin. Nicht zu übersehen war die breite Solidarität, die Fabio V. erfuhr. Das könnte abermals ein Faustpfand sein.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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