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Lilian Harvey und Hitler im Kino

  • Lesedauer: 10 Min.

1929

Victor Klemperer

Der Literaturwissenschaftler, Romanist und Politiker wurde 1881 in Landsberg/Warthe als neuntes Kind eines Rabbiners geboren. Zur Bekanntheit Klemperers über die Fachgrenzen hinaus trugen neben seiner Abhandlung »LTI - Notizbuch eines Philologen« (Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches) vor allem seine ab 1995 unter dem Titel »Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1933-1945)« herausgegebenen Tagebücher bei, in denen er akribisch seine Alltagserfahrungen im Zeichen der Ausgrenzung als intellektueller protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft aus der deutschen Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus dokumentierte.

Victor Klemperer ist einer der wichtigsten Chronisten der Zeit des Nationalsozialismus aus der Sicht eines Überlebenden des Holocaust. Im Jahr 1950 wurde er als Vertreter des Kulturbundes Abgeordneter der Volkskammer der DDR. Er starb 1960 in Dresden.

DER BEGINN DES TONFILMS

9. Juni Seit ich aus Wien zurück bin, wohnen wir in der hübschen bunten abenteuerlichen Dachkammer, der Lieblingsschöpfung Evas. Zuerst, weil unten die große Ablackung und Neustreichung des Ehebettes vorgenommen wurde, dann des vielen Logierbesuches wegen, denen wir das Schlafzimmer überlassen und - weil es uns oben so gut gefällt. Man ist dort geborgen, für sich, im Bunten, ein bisschen in unbeschwerte Bohèmezeit zurückversetzt. Ich wünschte, wir blieben den ganzen Sommer dort oben.

An dem Abend der »Möblierten Zimmer« gab es als Horsd’oeuvre zwei kleine »Tonfilme«. Eine Schubertlied-Szene und, einfacher, der spanische Tenor Sarobe singt (im Frack) den Bajazzoprolog. Es klingt noch recht hässlich: das wird sich beseitigen lassen. Aber was sich nicht beseitigen lassen wird, weil es ein immanentes Vitium ist: die Künstlichkeit, das Tote, der »Ersatz«, »Panoptikum«, sagt Eva, die auf diese Seite der Sache gleich hinwies und hinzufügte: hier werde aber wirklich nur künstlicher Theater-Ersatz geboten, während die Filmkunst sui generis sei. - Aber man sagt, der Tonfilm sei das Kommende, die Zukunft. Wir sind ihm jetzt das zweite Mal begegnet und fanden ihn beide Mal scheußlich.

1930

4. August Das Land ohne Frauen. (Die Braut 68.) Einer der wenigen Tonfilme, die wir gehört haben. Man spinnt Wirtshausszenen, Gesangseinlagen aus. Der Gesang ist erträglich, die allgemeine Musik schlecht, die Sprechstimme absolut unerträglich (und meist aufreizend unnötig). Das Stück ist aber inhaltlich interessant. Art Maupassant-Novelle. Frauenloses Kolonialland, in das ein Brautschiff kommt. Eines von den angezeigten und schon vergebenen Mädchen stirbt unterwegs. Das Los entscheidet, wer ohne Braut bleiben soll. Trifft den nervenkranken Telegraphisten. Er glaubt sich betrogen, seine Frau in den Händen eines andern. Wahnsinn. Dies in Kolonial- und Goldgräberhandlung gestellt. Tragische Rolle des amerikanischen Arztes, der die umworbene 68 liebt. Ausgezeichnete Spielleistungen und Bilder. Die Nr. 68 Elga Brink, der kranke Telegraphist Conrad Veidt (ein nervöses Lachen im Cabarett, das in Krampf übergeht, in Schluchzen, bis er eine Spritze bekommt, ist beste Tonleistung, die mir begegnet). Ernst Verebes, der gutmütige Goldgräber, der 68 heiratet und allein lässt, weil er erst einmal sein Gold ergraben muss. Karl Huszar in einer komischen Rolle als »schmutziger Mann«.

1931

4. April Nach wohl einjähriger Pause in einen Tonfilm. Er war scheußlich, und wir beschlossen weiteren Boykott. Scheußlich die entstellten Stimmen, die das Wenigste, das Belanglose, langsam und mechanisch herausquetschen. Film muss Ausdruckskunst sein, dem Ballett ähnlich, von Musik getragen, oder er ist ein widerwärtiger toter Mechanismus und ein misstöniger dazu. Es war auch ein schlechtes Filmstück. Nach den Brüdern Karamasow gearbeitet. Ich kenne sie nicht, oder habe sie bei meiner großen Aversion gegen die Russen vergessen; aber so sinnlos können sie nicht sein. Im Film verrät der Held die Braut, wirft sich an die Dirne weg, die mit seinem Vater spielt, will den Vater ermorden, ermordet beinahe einen alten Diener, wird schuldlos-schuldig nach Sibirien geschickt; und wird dorthin von der Dirne begleitet, die plötzlich eine wirkliche Liebende und bedeutende Person ist. Im Film wird man aus den Beweggründen eines verbrecherischen Dieners, Anstifters, Intriganten nicht im Geringsten klug. All das gibt hübsche, aber abgedroschene Einzelbilder und Situationen (Gericht, Gelage, Totschlag), die gut wären, wenn das sinnlose automatische Sprechen weniger, gedehnter, unnötiger Worte nicht störte. Auch kommt es wie von den Lippen der Puppen, die ohne das Menschen sein könnten. Natürlich ist Fritz Kortner als Held sehr gut. Auch Anna Sten als Dirne, Fritz Rasp als Bösewicht Smerdjakow. Aber nichts lebt wirklich. Trübselig. Eine gemordete Kunst, der Tonfilm!

6. April Gestern Nachmittag, am Ostersonntag nachmittags!, im Kino. Wieghardts waren zum Kaffee bei uns und hatten die Billette besorgt; wegen Überfüllung des Parketts bekamen wir sehr gute Rangplätze. Es war erst der zweite Tag, dass der neue Chaplin im Union-Theater lief. »Großstadtlichter«. Ein stummer Film mit Verspottung des Tonfilms a) durch die Rede zur Denkmalweihe, von der man kein Wort versteht, b) durch die von Chaplin verschluckte Pfeife, die immer zu pfeifen beginnt, sooft der Vortragende bei einer Soirée loslegen will. Eine hübsch aus Komik und Ernst komponierte Geschichte. Der arme Vagabund Chaplin setzt sich für ein blindes armes Mädchen ein. Er rettet sie, rettet ihr Augenlicht; sie glaubt von einem reichen Herrn gerettet, geliebt zu sein und findet den zerlumpten armen Teufel. Im Augenblick des gerührten Sich-Erkennens schließt das Stück; es ist aber weder durch die Handlung noch durch den Gesichtsausdruck gesagt, dass dieser Schluss ein unglückliches Ende bedeuten muss. Denn das Mädchen ist jetzt Inhaberin eines guten Blumenladens, sie liebt das gute Herz des zerlumpten Charlie, und Charlie ist jung und hübsch usw. … Der Vagabund Charlie ist in diesem Stück zusammengekoppelt mit einem spleenigen Reichen, der ihn in der Betrunkenheit als Freund behandelt, nüchtern nicht anerkennt. So gibt es allerhand bunte Szenen. Und immer ist Chaplin der Gleiche wie in seinen früheren Filmen: der Clown mit dem guten Herzen, der tapfere Feigling, der geschickte Schlemihl. Alle seine früheren Situationen, die clownischen und die herzlichen, sind wieder da ... Sehr schön - aber kein Fortschritt. Und ich glaube auch nicht, dass es bei Chaplin noch eine Weiterentwicklung gibt.

Wohltat, dass es ein stummer Film ist; scheußlich, dass seine Musik aus dem Radio kreischt.

30. Juni Am 24. 6. eigentlich zum ersten Mal ein wirklich guter Tonfilm. Richard Tauber - Das lockende Ziel. Der Gastwirtssohn wird Opernsänger, groß und von Heimat und Dorfbraut getrennt. Kein Kitsch, keine Sentimentalität. Gut a) weil hier Tonfilm sinnvoll ist. Spiel mit der Stimme: der ungeschulte Junge, das »hochdeutsche« Volkslied des Ungebildeten, die Kunstarie, die Opernszene, die Szene im Radio. Und weil doch zugleich Film als Film benutzt ist, Landschaft, Freilicht, wechselnde Szene. b) weil alles gut klang; freilich es klang alles gut, weil fast durchweg gesungen, fast nie gesprochen wurde. Noch ist die Möglichkeit des guten Tonfilms eng umgrenzt. Natürlicher Sprechdialog ist ihm ganz versagt ... Aber es war ein schöner melodienreicher Abend.

1933

IM NAZI-REGIME

20. März Wir sahen im Capitol heute »Menschen im Hôtel«. Erschütternd wie der Roman Vicky Baums ist auch der Film. Und durchweg großartig gedreht und ergreifend gespielt. Auch sehr natürlich gesprochen. (Nicht nur einzelne opernhafte Sätze - Gespräch!) John Barrymore zu alt für Gaigern; aber er transponiert seine Rolle um. Lyonel Barrymore als Kringelein durchaus tragisch und tragikomisch. Die Garbo als russische Tänzerin zugleich hysterisch und menschlich. Joan Crawford als Flämmchen ausgezeichnet zwischen Zynismus, Bitterkeit und Menschlichkeit. Nur Wallace Beery als Preysing allzu unsympathisch brutal. Vollkommen natürlich der untergelegte (synchronisierte) deutsche Text.

Der Abend brachte außerdem bei gutem Vortrag sehr hübsche Karawanenbilder aus der Mandschurei. Ich bin so sehr gern im Kino; es entrückt mich.

31. März Am Dienstag im neuen Universum-Kino in der Prager Straße. Neben mir ein Reichswehrsoldat, ein Knabe noch, und sein wenig sympathisches Mädchen. Es war am Abend vor der Boykottankündigung. Gespräch, als eine Alsbergreklame lief. Er: »Eigentlich sollte man nicht beim Juden kaufen.« Sie: »Es ist aber so furchtbar billig.« Er: »Dann ist es schlecht und hält nicht.« Sie, überlegend, ganz sachlich ohne alles Pathos: »Nein, wirklich, es ist ganz genauso gut und haltbar, wirklich ganz genauso wie in christlichen Geschäften - und so viel billiger.« Er: schweigt. - Als Hitler, Hindenburg etc. erschienen, klatschte er begeistert. Nachher bei dem gänzlich amerikanisch jazzbandischen, stellenweise deutlich jüdelnden Film klatschte er noch begeisterter …

Lustig und voller Schmiss, in Spiel, Sprechen, Musik, war der Hauptfilm: »Heut kommt’s darauf an«. Ganz einfache, harmlose blöde Handlung. Kampf und Intrige der Jazzkapellmeister, Manager etc. um »das goldene Saxophon«, an dem ein großer Preis hängt. Albers in x Lagen als Meister, Jazzband und Akrobaten um ihn, verliebt in eine schöne Kapellmeisterin, Luise Rainer, der er nach dépit amoureux den Preis verschafft. Happy End für ihn, sie und einen jungen Komponisten. Lustigste Szenen - eine Erholung und Ablenkung.

30. Juni Am 19. waren wir im Kino. Shanghai Express. Kindlichste Amerikahandlung, Sensation und Rührung. Shanghaï-Lilli und der englische Arzt. Trotz ihrer wüsten Vergangenheit kriegt man sich, nachdem sie ihn vor dem Schicksal der Blendung gerettet hat. Glückliche Marion de Lorme, unseliger Richelieu, der, zum chinesischen Bandenführer geworden, von einer Chinesin erdolcht wird. Aber wie gut ist der Kitsch ins Lokalkolorit getaucht, wie gut wird er gespielt! Das Ganze ist eine Eisenbahnfahrt von Shanghai nach »Peiping« während des Bürgerkriegs. Internationales Publikum, der Missionar, der Franzose, die Boardinghaus-Inhaberin usw. Truppen, Überfall … Man spricht englisch (knappe Übersetzungsstreifen). Marlene Dietrich, Anna May Wong und einige mir unbekannte sehr gute Engländer.

20. Juli Politische Lage trostlos. Es wäre denn ein Trost oder eine Hoffnung, dass sich die Tyrannei immer wilder, d. h. immer selbstunsicherer äußert: die Feier am Grabe der »Rathenau-Beseitiger«; der Befehl an alle Beamten (und so auch an mich), mindestens im Dienst und an der Dienststelle den »deutschen Hitlergruß« zu benutzen. Erweiterung: »Es wird erwartet«, dass man auch sonst diesen Gruß anwende, wenn man den Verdacht bewusster Ablehnung des neuen Systems vermeiden wolle. (Geßlerhut redivivus); eine Tonfilm-Aufnahme Hitlers, wenige Sätze vor großer Versammlung - geballte Faust, verzerrtes Gesicht, wildes Schreien - »am 30. Januar haben sie noch über mich gelacht, es soll ihnen vergehen, das Lachen …« Er scheint, vielleicht ist er im Augenblick allmächtig - das aber war Ton und Gebärde ohnmächtiger Wut. Zweifelt er an seiner Allmacht? Spricht man immerfort von Jahrtausenddauer und vernichteten Gegnern, wenn man dieser Dauer und Vernichtung sicher ist? …

Zweimal im Kino. »Der Kongress tanzt« - eine (wiederaufgenommene) allzu nichtige Nichtigkeit. Die Aufmachung hübsch. Der alte Staatsapparat, Metternich (Veidt) lenkt den Kongress, hört durch geheime Hörrohre, was die Diplomaten, was die Diener reden, sucht den Zaren durch Liebesaffären fernzuhalten, und dann kommt die Nachricht von Napoleons Landung. Hübsche Bilder, hübsche Musik, Hörbiger als Heurigensänger ausgezeichnet, Fritsch als junger Zar gut und sehr gut als sein blöder Doppelgänger, der ihn beim Repräsentieren zu vertreten hat, ausgezeichnet, wie er am Stickrahmen sitzt und idiotische Takte des Wolgaliedes singt - aber allzu nichtig und im Kern unsittlich das kleine Mädel, das eine Liebelei mit dem Zaren hat, ein paar Stunden anmutige Märchenprinzessin und verzauberte Gans, aber doch eben Gans ist und sich schließlich mit ihrem Bräutigam, dem Sekretär des Metternich, trösten wird. (Lilian Harvey.) Wir kamen angeödet und zerschlagen nach Haus.

Licht und Schatten
Eine bemerkenswerte Erstveröffentlichung: der große Chronist über seine Filmleidenschaft. Erstmals vollständig gedruckt: Victor Klemperers Tagebuchnotizen über seine Kinobesuche zu Beginn der Tonfilm-Ära. Von Anfang an erlebt der Cineast mit, wie die technische Neuerung 1929 in Deutschland Einzug hält. Nicht selten geht er mehrmals pro Woche ins Kino. Zunächst kritisch, lässt er sich schon bald von den neuen Möglichkeiten mitreißen. Von den Nationalsozialisten aber wird das Medium immer weiter vereinnahmt, Klemperer schließlich durch das Kinoverbot für »Nichtarier« 1938 ganz aus den Lichtspielhäusern verbannt. Doch nicht einmal das kann ihn fernhalten. Das leidenschaftliche Bekenntnis eines Kinomanen, der uns den Tonfilm als Spiegel deutscher Geschichte mit allen Licht- und Schattenseiten vorführt.

Victor Klemperer:
Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929 - 1945
Hrsg. von Nele Holdack und Christian Löser
Aufbau-Verlag
363 S., geb., 24 €

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