Irre wirre Männerwelt

Erst Gejammer im Chat, dann Terror auf der Straße: Neue Bücher über Incels

  • Lars Fleischmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Nachdem der damals 26-jährige Alek Minassian im April 2018 mit einem Mietwagen im kanadischen Toronto gezielt Menschen überfuhr, muss er sich nun wegen zehnfachen Mordes vor Gericht verantworten. Am 10. November wurde das psycho-forensische Gutachten verlesen. Es legt nahe, dass Minassians bereits vorher bekannter Autismus durch Erfahrungen und Austausch in Online-Foren »auf ein Level gebracht wurde, das einer Psychose nicht unähnlich« sei. Diese »Quasi-Psychose« soll zu dem Terroranschlag geführt haben.

Vieles spricht dafür, dass Minassian ein sogenannter Incel war oder ist. »Incel« ist ein Kofferwort und verbindet »involuntary« und »celibate«, also unfreiwilliges Zölibat. Es beschreibt eine Gruppe an jungen Männern, die sich seit einigen Jahren in Online-Foren zur Szene formiert haben. Was auf Boards wie 4chan oder incels.co geschieht und welche Folgen dies haben kann, zeigen zwei Neuveröffentlichungen: »Politische Männlichkeit« von Susanne Kaiser und »Incels« von Veronika Kracher. Kaisers Buch geht durchgängig der politisch organisierten Frauenfeindschaft nach, während sich Kracher ganz dem Feld der Incels widmet. Was verbirgt sich also hinter diesem »Online-Kult«, wie ihn Kracher nennt?

Incels begreifen sich als Anhänger der Blackpill-Ideologie. Rekurrierend auf den Film »Matrix«, in dem der Protagonist Neo die Wahl hat zwischen einer blauen - er verbleibt in der namenspendenden Scheinwelt der Matrix - und einer roten Pille - er wird erkennen, dass er sein Leben in einer Lüge verbracht hat -, zeigt man sich der schmerzhaften, aber wahrheitsbringenden »red pill« verpflichtet. So meint man dann einen feministisch-jüdischen Staatsstreich zu erkennen, der heterosexuelle Männer unterdrücken, gar auslöschen möchte. Diese Verschwörungstheorie gepaart mit Selbstverletzung und -entwertung, mit Körperunwohlsein und hoher Frustration ist die sogenannte »black pill«, die die Incels schlucken.

Die unfreiwillig im Zölibat befindlichen Männer glauben, sie seien zu hässlich, zu klein, mit zu hohem Haaransatz oder zu schmalen Handgelenken »gesegnet«. Dementsprechend würden Frauen, die allesamt oberflächlich, dumm, arrogant, lüstern, menschenverachtend und verblendet seien, nicht von ihnen angezogen sein. Sogenannte Stacys - Frauen, die wie Pamela Anderson aussehen -, aber auch Beckys (»normale Frauen«) interessieren sich gleichermaßen nur für Chads. Hinter dieser Typisierung stecken wiederum Männer mit Jägeraugen, hohen Wangenknochen, irgendwo zwischen Model und Surfertyp verortet. Sind diese schwarz, nennt man sie Tyrone. Incels zeigen sich erfinderisch, wenn es darum geht, Menschen in Typen einzuteilen.

Wenn es um sie selbst geht, so leben Incels in steter kognitiver Dissonanz: Einerseits finden sie sich hässlich, andererseits haben sie es einfach verdient, eine Frau an ihrer Seite zu haben. Doch die Gesellschaft kommt diesem vermeintlichen Anrecht nicht nach. Dann wiederum sind sie es nicht wert, geliebt zu werden, andererseits erkennen die, gerne als Schlampen bezeichneten, Frauen ihre »Gentlemanhaftigkeit« einfach nicht an. Es ist eine wirre Welt, in der Incels leben. Auf Imageboards und in Online-Foren tauschen sich auf diese Art geschätzt über eine Millionen Männer tagtäglich aus.

Man kann und darf die Incels nicht unterschätzen. Das zeigt der Fall von Elliot Rodger, der 2015 im kalifornischen Isla Vista sechs Menschen und sich selbst ermordete. Noch während seines Terrorlaufs mit Handfeuerwaffen, Messern und Macheten veröffentlichte er ein über 130 Seiten langes Manifest, mit dem sich sowohl Kracher als auch Kaiser ausführlich befassen. Rodger wurde nach dieser Tat zum Archetyp des amoklaufenden Incels: »To go ER« ist ein beliebtes Chiffre, das über Pläne zum Amoklauf aufklären soll. Dass Minassian seine Terrorfahrt Rodger widmete, ist nur folgerichtig.

Als weitere Gemeinsamkeiten werden in beiden Büchern herausgearbeitet: die Vorstellung, von Frauen unterdrückt zu sein; die Hoffnung, mit seinem Amoklauf ein sogenanntes »beta-male-uprising«, einen Aufstand der hässlichen und zurückhaltenden Männer, auslösen zu können; die weitestgehende Abschottung von der realen Welt; »die fast schon gewalttätige Abspaltung von Gefühlen« (Kracher); libidinöse Frustration und der Glaube, man hätte ein Anrecht auf eine Frau. Gerade das immanente Terrorpotenzial dieser Ideologie ist beunruhigend. So steht dieser Tage nicht nur Minassian in Toronto vor Gericht, sondern in Magdeburg auch der Jom-Kippur-Attentäter, der am 9. Oktober vergangenen Jahres in Halle zwei Menschen erschoss, nachdem er an der Synagoge gescheitert war.

Der eindeutig antisemitische Anschlag von Halle weist einige Gemeinsamkeiten zu den Incels auf. Manche sind offensichtlich, wie beide Autorinnen betonen. Kaiser verweist etwa darauf, dass sich der Attentäter nicht nur an den Codes der Incels orientierte - so nennt er sich selbst einen NEET (Not in Education, Employment or Training - beschäftigungslos) -, er hörte darüber hinaus auch einen Minassian gewidmeten Rap-Song. Obwohl auch frauenfeindliche Motive eine Rolle spielen und Antisemitismus sowie anderer gruppenbezogener Hass wiederum in der Szene an der Tagesordnung sind, ist der Terror von Halle kein Incel-Attentat. Warum, erfährt man in den beiden Büchern.

Der Stil der Autorinnen unterscheidet sich erheblich. Kaiser ist eher wissenschaftlich-objektiv, Kracher eher subjektiv-polemisch. Kaisers Buch geht zudem über das Thema der Incels hinaus. Sie beleuchtet auch Maskulinisten und sogenannte Pick-Up-Artists; analysiert Anti-Genderismus in seiner Rolle als »kultureller Kitt« zwischen Kirche, Autokraten, Nazis und Verschwörungstheoretikern. Kracher wendet sich solchen Entwicklungen, wenn überhaupt, nur kurz zu und fokussiert sich auf die Incels als Gruppe - dennoch verknüpft mit Exkursen in antipatriarchale und antikapitalistische Gefilde.

Mit den vorliegenden Büchern leisten die beiden Autorinnen wichtige Aufklärungsarbeit zum Thema Incels. »Dabei handelt es sich um eine Form des Terrorismus und somit um politische Gewalt«, so Kaiser, »denn das Ziel der Akteure ist gemäß ihrer Ideologie eine neue Ordnung.« Bislang würden diese Fälle aber nicht als Terrorismus, sondern bevorzugt als Amokläufe geistig verwirrter Einzeltäter behandelt; dass dies nicht zutrifft, zeigen die Gerichtsverfahren in Toronto und Halle - und Kaiser und Kracher mit ihren klugen, lesenswerten Analysen zur Szene.

Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen. Edition Suhrkamp, 268 S., br., 18 €;

Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Ventil, 280 S., br., 16 €.

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