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- Humanistische Lebenskunde
Das tote Meerschweinchen im Unterricht
Schülerzahlen für das freiwillige Grundschulfach Humanistische Lebenskunde steigen weiter stark an
Immer mehr Berliner Eltern melden ihre Grundschulkinder für das Fach Humanistische Lebenskunde an. »Mittlerweile besuchen knapp 70 000 Schülerinnen und Schüler den Lebenskundeunterricht, das sind noch einmal rund 3000 mehr als im vorangegangenen Schuljahr«, sagt David Driese vom Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg, dem Anbieter des Faches. Auch wenn mit offiziellen Zahlen der Senatsbildungsverwaltung erst im Januar zu rechen ist, sei schon jetzt klar, »dass die Teilnehmerzahlen bei der Lebenskunde damit, zumindest an den öffentlichen Grundschulen, die des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts überflügelt haben«, so Driese zu »nd«.
Tatsächlich sinken die Anmeldungen für den christlichen Religionsunterricht in der Hauptstadt seit Jahren - langsam zwar, aber stetig. Laut einer jüngst vorgelegten Auswertung der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland nahmen bereits im vergangenen Schuljahr über 34 Prozent aller Berliner Grundschüler am Lebenskundeunterricht teil. Dahinter folgte der evangelische Religionsunterricht mit 26 Prozent sowie, weit abgeschlagen, der katholische mit acht und der islamische Unterricht mit unter drei Prozent. Etwas weniger als 30 Prozent aller Kinder nahmen weder am Religions- noch am Weltanschauungsunterricht teil. Denn anders als das für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 verpflichtende staatliche Fach Ethik handelt es sich bei den entsprechenden Grundschulfächern um freiwillige Zusatzangebote. Die Kids könnten also blau machen.
Dass sie das nicht tun, oder besser: dass Eltern ihre Kinder für die zwei Wochenstunden Lebenskunde anmelden, überrascht Verbandvorstand Driese nicht. »Viele Eltern haben das Bedürfnis, dass ihre Kinder ein ethisch fundiertes, wertebasiertes Wissen über die Welt vermittelt bekommen.« Und genau dieses Bedürfnis sei »gerade angesichts der Trumps dieser Welt« noch einmal stärker, so Driese zu den steigenden Teilnehmerzahlen.
Dass das Fach Humanistische Lebenskunde an öffentlichen Grundschulen inzwischen die erste Wahl ist, hänge auch damit zusammen, dass im Unterricht ganz alltägliche Dinge behandelt werden, die die Kinder umtreiben, meint Driese. Wie streitet man sich richtig mit den Eltern? Wie geht man mit dem Thema Tod um? »Da geht es dann auch sehr lebhaft zu. Etwa nachdem ein Kind erzählt hat, dass sein Meerschweinchen gestern gestorben ist. Und dann wird diskutiert: Gibt es für Meerschweinchen ein Leben nach dem Tod im Himmel? Ist es einfach weg? Oder lebt es weiter in uns, weil wir es in Erinnerung behalten?« Das gefalle den Kindern und spreche sich dann auch bei den Eltern rum.
Bei den Anmelderzahlen gibt es indes eine auffällige Ost-West-Spaltung. So belegen wesentlich mehr Kinder im Ostteil der Stadt das Fach als im Westteil. Während etwa in Pankow oder Treptow-Köpenick die Zahlen um die 60 Prozent liegen, beläuft sich der Anteil in Spandau, Neukölln oder Reinickendorf auf gerade einmal rund 25 Prozent. Nichtsdestotrotz gehe es auch hier kontinuierlich nach oben mit den Anmeldungen, berichtet Driese.
Mit der wachsenden Beliebtheit des Faches geht freilich das Problem einher, dass den Humanisten zunehmend die Lehrkräfte ausgehen. Um die 400 Pädagogen sind bei dem Verband angestellt, die Stellen werden zu 90 Prozent aus Mitteln der Senatskulturverwaltung finanziert, der Rest läuft über Spenden. Viel Luft nach oben sei da derzeit nicht, sagt Driese. »Obwohl aktuell 42 Referendare angefangen haben, fehlt uns Personal, da wir bei den Anmeldungen sogar über dem Trend der ohnehin steigenden Entwicklung bei den Schülerzahlen in Berlin liegen.«
Auch deshalb treibt der 15 000 Mitglieder zählende Verband derzeit die Gründung einer Humanistischen Hochschule in der Hauptstadt voran. Wobei die Neugründung zugegebenermaßen noch Zukunftsmusik ist. Allein der spätere Anerkennungsprozess dürfte gut zwei Jahre dauern, schätzt Driese.
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