Ringen um Mehr in der Lebensmittelbranche

Belegschaft von Haribo im sächsischen Wilkau-Haßlau protestiert erneut gegen geplante Werksschließung

  • Hendrik Lasch, Wilkau-Haßlau
  • Lesedauer: 4 Min.

»Hilf uns, Hans!«, steht auf kleinen Zetteln, die um fünf vor zwölf am Sonntagmittag in den grauen Himmel über dem Rathaus von Wilkau-Haßlau steigen. Sie hängen an silbernen Luftballons mit dem Schriftzug »Haribo«. Der Hilferuf richtet sich an den Gründer des Süßwarenkonzerns Hans Riegel, der am 13. Dezember vor 100 Jahren in Bonn mit einer Bonbonkocherei startete. Aus dieser ging der heutige Gummibärchen-Konzern hervor, der in der sächsischen Stadt sein einziges ostdeutsches Werk betreibt - das er aber schließen will. Das wurde den 150 Mitarbeitern Anfang November verkündet. »Wir waren stolz darauf, ein Teil der gesamtdeutschen Haribo-Familie zu sein«, heißt es auf den Zetteln an den Luftballons. Doch der 100. Geburtstag sei »kein Grund zu feiern«.

Die Belegschaft ist vielmehr seit gut fünf Wochen im Protestmodus - und kann erste Erfolge verbuchen. Am Freitag wurden die Verhandlungen über einen Sozialplan erfolgreich abgeschlossen. Man habe ihn »dem Unternehmen abgerungen«, sagte Thomas Lißner von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) dem »nd«. Er sieht unter anderem vor, dass es keine Kündigungen vor Ende März gibt. Die Geschäftsführung hatte das Werk, das ebenfalls auf eine 100-jährige Tradition zurückblickt, bereits in der DDR Süßwaren in den Westen exportierte und 1990 von Haribo übernommen wurde, zunächst schon Ende Dezember schließen wollen. Auch »relativ gute« Abfindungen seien vereinbart worden, sagen Mitarbeiter.

Die allerdings ersetzen keine sicheren, nach Tarif entlohnten Arbeitsplätze, sagt Karin Düntsch. Die 55-Jährige fand vor drei Jahren eine Anstellung bei Haribo in Wilkau-Haßlau: »Ich dachte, das bietet Sicherheit bis zur Rente.« Statt dessen steht die Schließung um Raum - und die Offerte, künftig in einem der anderen Haribo-Werke zu arbeiten, die freilich rund 500 Kilometer entfernt in Soest, Bonn oder am Konzernsitz in Grafschaft (Rheinland-Pfalz) liegen. Ein »vergiftetes Angebot«, findet Düntsch. Sie hat vor einem Jahr ihren Mann verloren; Kinder und Enkel leben in der Region Westsachsen: »Das ist mein Halt, da kann ich nicht wegziehen.«

Die Erwartung, dass Haribo seine Entscheidung noch einmal revidiert, ist unter den Mitarbeitern nicht mehr groß. Zwar »stirbt die Hoffnung zuletzt«, sagt Düntsch. Auch Gewerkschafter Lißner betont, man wolle den Konzern »auf keinen Fall aus seiner sozialen Verantwortung entlassen«. Im neuen Jahr soll es deshalb weitere Aktionen geben. Formal ist das Verfahren mit Sozialplan und Interessenausgleich aber abgeschlossen. Stattdessen richten sich die Hoffnungen nun auf mögliche Nachfolger. Es gebe vier Interessenten, die eine Produktion an dem traditionsreichen Standort weiterführen würden, sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Körber nach einer Videokonferenz von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Bürgermeister Stefan Feustel (beide CDU) mit der Haribo-Geschäftsführung am Samstag. Auch Lißner sieht den Konzern in der Pflicht, »sich um einen ordentlichen Nachfolger zu kümmern«. Dieser müsse nach Tarif zahlen. Es sei vertraglich vereinbart, dass der Betriebsrat in Wilkau-Haßlau ein Mitspracherecht habe.

Dass derlei Vereinbarungen mit dem zunächst ausgesprochen kaltschnäuzig auftretenden Konzern erreicht wurden, ist nach Ansicht von Mitarbeitern und Gewerkschaft vor allem dem entschlossenen Widerstand der Belegschaft geschuldet. Das Management habe »nicht mit einer solchen Reaktion der Ostdeutschen gerechnet«, sagt Karin Düntsch. Die Beschäftigten hatten unter anderem mit einer Kundgebung in Zwickau und einer Menschenkette um das Werk für Aufsehen gesorgt, die regionale Politik hatte ein Aktionsbündnis gegründet. Minister hatten gegen die Schließungspläne protestiert. Martin Dulig, sächsischer SPD-Wirtschaftsminister und Ostbeauftragter seiner Partei, warnte vor einem Rückfall in die 90er und den damaligen Kahlschlag Ost. Auch der Entertainer Thomas Gottschalk, langjähriger Werbeträger von Haribo, war den Mitarbeitern in Wilkau-Haßlau zur Seite gesprungen. Seinen Slogan »Haribo macht Kinder froh, und Erwachsene ebenso« müsse das Unternehmen »auch als Arbeitgeber ernst nehmen«, sagte er.

NGG-Mann Lißner ist überzeugt, dass am Ende die Entschlossenheit der Belegschaft den Ausschlag für Zugeständnisse des Konzerns gab. Er beobachtet generell ein wachsendes Selbstbewusstsein der ostdeutschen Beschäftigten in der Lebensmittelbranche, die lange nicht für Kampfkraft und solide Tarifabschlüsse bekannt war. Zuletzt aber hatte es in Sachsen eine regelrechte Offensive gegeben, mit Streiks und anderen Formen des Arbeitskampfes etwa bei der Teigwarenfabrik Riesa, bei Bautzner Senf, bei Unilever Auerbach, im Margarinewerk Dresden und zuletzt in der Brauerei Sternquell im vogtländischen Plauen. »Wir haben den Mitgliedern angeboten: Wenn ihr wollt, gehen wir in die Vollen«, sagt Lißner. Vielerorts sei das auf offene Ohren gestoßen. »30 Jahre nach der Wende lassen sich die Leute nicht mehr alles gefallen«, sagt der Gewerkschafter, sei es ein horrender Abstand bei den Einkommen oder eine kalt verkündete Werksschließung.

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