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Lockdown als Normalzustand
Teil 2 unserer Serie über Menschen in Berufen, die die Coronakrise besonders trifft
Seit März ist Herr Lehmanns Kirche fast immer voll. Erst haben sie ganz schüchtern die Köpfe durch die Tür gesteckt, erzählt der Pfarrer schmunzelnd. Dann kamen sie jeden Tag, meist schon um elf: Die Justizvollzugsbeamten, Verwaltungsangestellten und Sozialarbeiter. Denn Lehmanns Kirche ist der einzige Raum im Moabiter Gefängnis, wo man auch in großer Zahl noch Abstand halten und sich für den Tag besprechen kann.
Herr Lehmann findet es schön, dass die Angestellten der JVA so einen Einblick in seine Arbeit als Gefängnisseelsorger gewinnen. »Viele wussten zuvor gar nicht, was sich hinter der einzigen Holztür im dritten Stock verbirgt«, sagt er. Ein lichtdurchfluteter, rundlicher Raum, einfache Holzstühle, ein Altar. Allein die Gitter vor den drei hohen Fenstern erinnern daran, dass die Besucher nach dem Gottesdienst nicht nach Hause gehen, sondern in ihre Zellen zurückkehren.
»Was ich hier mache, ist in erster Linie Notfallseelsorge«, sagt Herr Lehmann. Denn die JVA Moabit ist ein Untersuchungsgefängnis: Hier verwahrt die Justiz angeklagte Männer, von denen sie befürchtet, sie könnten bis zum Prozesstermin flüchten, die Tat verdunkeln oder wiederholen. Sie erleben einen plötzlichen Total-Lockdown. Und sind nach dem Urteil häufig genauso plötzlich wieder frei - oder wandern in Langzeithaftanstalten.
Vor März saßen in Moabit fast 1000 Männer ein, derzeit sind es gerade einmal 761. Die Zahl der Inhaftierten musste deutlich reduziert werden, um Quarantänestationen einzurichten und die Regeln zum Infektionsschutz einzuhalten. Nun gilt jeder Flur des sternförmigen Gebäudes als ein Haushalt, Freunde und Familie dürfen die Inhaftierten nur noch hinter einer Plexiglasscheibe sehen.
Sonst sei vieles gleich geblieben, erzählt Herr Lehmann. Wenn die Inhaftierten gegen Mittag auf die Innenhöfe strömen, fangen sie immer noch wie automatisiert an, im Schatten der hohen Backsteinmauern gegen den Uhrzeigersinn zu laufen. In den zehn Jahren, die Herr Lehmann hier arbeitet, hat er es noch nie anders beobachtet. Vielleicht gehen sie gegen die Zeit an. Gegen die 18 Stunden, die jeder von ihnen täglich allein auf neun Quadratmetern ausharrt. Aber auch gegen die Sorgen, die gleich geblieben sind, selbst wenn jenseits der Mauern die Pandemie die Stadt fest im Griff hat: »In der Seelsorge geht es nach wie vor um ähnliche Fragen: Wie geht es meinen Liebsten, wie kann ich jetzt Vater sein, hat meine Freundin einen Neuen?«, erzählt der Pfarrer.
Im Dezember drücken diese Fragen besonders schwer auf die Seele. Umso wichtiger ist es Herrn Lehmann, allen einen Weihnachtsgottesdienst zu ermöglichen. 200 Inhaftierte haben sich in diesem Jahr angemeldet. Da nur 35 Menschen corona-konform in die Kapelle dürfen, erzählen Lehmann und seine Kollegen sechsmal an drei Tagen von der Weihnachtsgeschichte und verteilen selbstgepackte Jutebeutel mit Süßigkeiten, Tabak und einer Kerze - im Knast kommt das Gold, Weihrauch und Myrrhe schon sehr nah.
Was wird Herr Lehmann den Männern predigen? In der Weihnachtsgeschichte nach Lukas gibt es eine Stelle, die die Außenseiter beschreibt, erzählt er. Es sind die Hirten, die nachts weit draußen vor der Stadt die Tiere hüten. »So eine Arbeit macht nicht jeder. Historisch gesehen waren das ganz besondere Typen«, grinst er, »Und ausgerechnet denen erscheint jetzt ein Engel, der ihnen von allen Menschen zuerst die Geburt Jesu verkündet.«
Fürchtet euch nicht, sagt der Engel, Herr Lehmann hat es auf seiner Weihnachtskarte an alle Inhaftierten wiederholt. »In unser derzeit so furchterregenden Welt ist das eine wichtige Botschaft, nicht nur im Gefängnis«, sagt der Pfarrer.
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