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- Alexej Nawalny
Eine Frage der Verantwortung
Der Fall Nawalny, die Sanktionen gegen Moskau und die deutsch-russischen Beziehungen
Der russische Oppositionelle und Putin-Gegner Alexej Nawalny befindet sich seit dem 22. August in Deutschland. Nachdem er während eines Fluges in Russland am 20. August zusammengebrochen und zur Erstbehandlung in ein Krankenhaus in Omsk gebracht worden war, wurde er auf Wunsch seiner Familie und mit der Zustimmung von Russlands Präsident Wladimir Putin zur medizinischen Weiterbehandlung nach Berlin geflogen und in die Charité eingewiesen. Im Ergebnis der Untersuchung durch ein Speziallabor der Bundeswehr teilten Ärzte der Charité mit, dass Nawalny mit dem chemischen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet wurde.
Während der Kranke noch im Koma lag, gab der ihn begleitende Leonid Wolkow, der sich als Stabschef der von Nawalny geleiteten Oppositionsbewegung bezeichnet, gegenüber deutschen Politikern und Journalisten Erklärungen über den vermeintlichen Ablauf der Vergiftung und über die dafür Verantwortlichen ab. Er behauptete, dass das Nervengift Nowitschok nur in Russland hergestellt werde und sich ausschließlich im Verantwortungsbereich der russischen Regierung befinde. Deshalb stehe für ihn eindeutig fest, dass Präsident Putin eine Anweisung an Mitarbeiter seines Geheimdienstes gegeben habe, Nawalny zu vergiften.
Fast vier Monate nach dem Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gibt es erste Erkenntnisse zum möglichen Tathergang. Eine internationale Recherchegruppe vermutet, dass die Vergiftung Nawalnys von einer Agentengruppe des russischen Geheimdienstes FSB geplant und durchgeführt wurde. Man habe mindestens acht FSB-Mitarbeiter identifiziert, die sich über einen langen Zeitraum im direkten Umfeld von Nawalnys Reisen innerhalb Russlands bewegten.
Diese FSB-Leute hätten medizinische oder chemische Kenntnisse oder seien für russische Spezialkräfte tätig gewesen. An den Recherchen waren das Nachrichtenmagazin »Spiegel«, die Investigativplattformen »Bellingcat« und »The Insider« sowie der US-Nachrichtensender CNN beteiligt. Die Journalisten hätten Mobilfunkverbindungen, Standortdaten von mutmaßlichen FSB-Mitarbeitern sowie Passagierlisten russischer Linienflüge ausgewertet.
Am letzten Donnerstag hatte Russlands Präsident Wladimir Putin erklärt, er sehe keine Grundlage für Ermittlungen im Fall Nawalny. »Wenn eine Person fast stirbt, bedeutet dies nicht, dass jedes Mal eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet werden muss«, erklärte der Staatschef laut einer vom Kreml veröffentlichten Abschrift. Demnach hatte sich Putin zu dem Thema bei einem Treffen des Kreml-Beirats für Menschenrechte geäußert.
Nawalny war am 20. August auf einem Flug von Tomsk nach Moskau zusammengebrochen. Zwei Tage später wurde der 44-Jährige, im Koma liegend, in die Berliner Universitätsklinik Charité gebracht. Nach Angaben mehrerer europäischer Labore wurde er mit einem Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet.
Putin warf den europäischen Ländern mangelnde Kooperationsbereitschaft vor. Die russische Staatsanwaltschaft habe die europäischen Kollegen um einen Abschlussbericht gebeten. Zudem seien russische Ermittler bereit gewesen, »nach Frankreich und Deutschland« zu reisen, um sich mit den Experten zu treffen. Doch europäische Ermittler würden nicht mit den russischen Behörden kooperieren. »Zeigt uns, wo dieses Nowitschok ist«, wird Putin zitiert. Agenturen/nd
Ohne auf Wolkow zu verweisen, erklärten nun der deutsche Außenminister und mehrere nicht der Regierung angehörende Politiker öffentlich, dass der Kreml und Putin persönlich die Verantwortung für diesen Giftanschlag tragen. Das sei eine Verletzung der Menschenrechte in Russland sowie ein Verstoß gegen das internationale Chemiewaffen-Abkommen und könne nicht ohne spürbare Reaktionen bleiben. In Abstimmung mit der Europäischen Union, anderen Staaten und der Nato werde deshalb in Erwägung gezogen, neue Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Dazu gehöre auch ein Abbruch der Bauarbeiten an der Erdgaspipeline Nord Stream 2. Diese Erklärungen führten zu einer erheblichen Verschlechterung in den deutsch-russischen Beziehungen.
Aus diesem Grunde teilte ich der Bundeskanzlerin am 15. September in einem Brief mein Unverständnis und meine Besorgnis wegen des Verhaltens der Bundesregierung im Fall Nawalny mit und wies darauf hin, dass gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland eine wichtige Voraussetzung für die Erhaltung des Friedens in Europa und vorteilhaft für die Bevölkerung in beiden Ländern sind. Deshalb bat ich sie, sich für eine schnellstmögliche Überwindung des entstandenen Tiefpunktes in den deutsch-russischen Beziehungen einzusetzen. Mein Engagement in dieser Frage begründete ich auch damit, dass ich im Zweiten Weltkrieg als Soldat der Nazi-Wehrmacht am Überfall auf die Sowjetunion teilnehmen musste und bei der Belagerung Leningrads und anderen Gelegenheiten die furchtbaren Auswirkungen dieses Krieges auf die Bevölkerung Russlands und anderer Sowjetstaaten erlebte.
Am 24. September erhielt ich eine Antwort auf diesen Brief aus dem Bundeskanzleramt von Frau Nadine Wachter, die dort für die Beziehungen Deuschlands zu Russland zuständig ist. Nach einer Begründung für das Vorgehen im Fall Nawalny schrieb sie, dass die Bundesregierung auch weiterhin alles ihr Mögliche tun werde, um sich für die Erhaltung des Friedens in der Welt und besonders in Europa einzusetzen. In diesem Zusammenhang fügte sie ihrem Schreiben die Kopie eines Grußwortes bei, welches die Bundeskanzlerin am 2. September anlässlich des russisch-deutschen Gedenk- und Versöhnungskonzerts in der St.-Peter-und-Paul-Kathedrale in Moskau dorthin übermittelt hatte. Darin erinnerte sie daran, dass vor 75 Jahren der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg und der von Deutschland verschuldete Zivilisationsbruch der Shoa, unter dem die Völker der damaligen Sowjetunion besonders zu leiden und die höchste Zahl an Opfern zu beklagen hatten, endlich ein Ende gefunden hatte. Sie betonte, dass »die Bereitschaft zu Dialog und Versöhnung von unschätzbarem Wert war und ist und dass es gilt, sie als Wesenskern des deutsch-russischen Verhältnisses zu pflegen und zu bewahren«.
Nachdem ich in den vergangenen Wochen in mehreren Presseorganen Berichte zum Fall Nawalny gelesen hatte, die meines Erachtens für die deutsch-russischen Beziehungen von wesentlicher Bedeutung sind, wandte ich mich am 2. November erneut in einem Brief an Frau Wachter im Bundeskanzleramt. Verbunden mit der Hoffnung auf die baldige Wiederherstellung dauerhaft guter Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, teilte ich ihr unter anderem folgende Argumente mit:
- Aus dem Artikel »Nowi-Schock« im »Spiegel« geht hervor, dass kurz nach dem Niedergang der Sowjetunion ein russischer Wissenschaftler dem BND das Angebot unterbreitete, diskret etwas dorthin zu schaffen, was es offiziell gar nicht geben durfte: Es handle sich um ein binäres Nervengift aus einem geheimen Chemiewaffenprogramm, das aus zwei deutlich harmloseren Substanzen gemischt wird. Der Wissenschaftler wollte mit seiner Familie in den Westen, und die Übergabe dieses Gifts sowie die Information für dessen Herstellung sollten sein Ticket dafür sein. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl entschied, den »wertvollen Maulwurf« nach Deutschland zu holen, den hochgiftigen Stoff jedoch an anderer Stelle untersuchen zu lassen. Die Ehefrau des Wissenschaftlers schmuggelte 1997 zwei Ampullen dieses Gifts nach Schweden, wo sie in einem Militärlabor analysiert und als »Nowitschok« bezeichnet wurden. Der BND teilte sein Wissen wichtigen Nato-Partnern mit, darunter Großbritannien und den USA. Außerdem gelangten nach Angabe der »Spiegel«-Autoren weitere Dosen dieses Gifts unkontrolliert auf den Markt. Das steht in krassem Widerspruch zu der Behauptung des Nawalny-Vertrauten Leonid Wolkow, Nowitschok gebe es nur in Russland.
- Wolkow erklärte in einem Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, dass Nawalny wieder nach Russland zurückkehren werde und dass das Ziel der von diesem geleiteten Oppositionsbewegung darin bestehe, das derzeitige Herrschaftssystem Russlands zu einem dafür geeigneten Zeitpunkt zu beseitigen. Es handelt sich also im Fall Nawalny um ein ausschließlich innerrussisches Problem, nämlich den Konflikt zwischen der Regierung und einer Oppositionsbewegung. Die durch den deutschen Außenminister erfolgte Verurteilung der russischen Führung und die Androhung von Sanktionen sind somit eine Einmischung in eine innere Angelegenheit Russlands.
In der Satzung der Vereinten Nationen ist jedoch festgelegt, dass für Strafmaßnahmen gegen Länder, denen Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte vorgeworfen werden, ausschließlich der UN-Sicherheitsrat zuständig ist. Und der amerikanische Politikwissenschaftler Henry Kissinger hat in seinem 2014 erschienenen Buch »Weltordnung« darauf hingewiesen, dass die Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten erstmals mit dem Westfälischen Frieden 1648 als allgemeingültige Ordnung formuliert wurde. Deutschland verstößt demnach im Fall Nawalny mit der Einmischung in einen innerrussischen Konflikt gegen geltendes internationales Recht.
- Der Botschafter Russlands in Deutschland wies in dem Interview mit der »Berliner Zeitung« darauf hin, dass sein Land den Fall Nawalnyj absolut ernst nimmt. Die durch nichts bewiesene Behauptung, dass die russische Regierung für seine Vergiftung verantwortlich sei, sowie die Androhung von Sanktionen gegen Russland können jedoch nicht hingenommen werden. Er bedauert die antirussische Hysterie, die durch den Fall Nawalny künstlich entfacht wurde, betont, dass gute Beziehungen zu Deutschland für Russland immer eine Priorität waren und dass wir alles tun sollten, damit diese nicht erodieren. Es könne jedoch sein, dass jemanden das gute deutsch-russische Verhältnis stört.
- In meinem Brief an die Bundeskanzlerin hatte ich erwähnt, dass der vom deutschen Außenminister geforderte Abbruch der Bauarbeiten an der Erdgaspipeline Nord Stream 2 den Interessen der USA entspricht. Das wird durch das Vorgehen der Amerikaner gegenüber der Kleinstadt Sassnitz auf Rügen unter Beweis gestellt: Im August hatten drei US-Senatoren einen Brief an die Fährhafen Sassnitz GmbH geschrieben, die zu 90 Prozent der Stadt Sassnitz und zu 10 Prozent dem Land Mecklenburg-Vorpommern gehört. Die beiden Direktoren der GmbH wurden darin ultimativ aufgefordert zu veranlassen, dass die Bauarbeiten an dieser Pipeline, die nur noch einige Kilometer vom Hafen Mukran entfernt ist, sofort gestoppt werden. Es dürfe auf keinen Fall geschehen, dass russisches Erdgas in Mukran entladen und von dort in entsprechenden Leitungen an europäische Bestimmungsorte geliefert werde. Wenn dieser Forderung nicht entsprochen werde, dann wolle die US-Regierung fatale Sanktionen gegen die GmbH verhängen, die Sassnitz wirtschaftlich vernichten.
Am 22. Oktober wurden die amerikanischen Sanktionsdrohungen erneuert. Manuela Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, sagte dazu im Interview mit der »Berliner Zeitung«: »Es ist ungeheuerlich, dass eine befreundete Nation solche Drohungen gegen einen kleinen Hafen an der Ostsee ausspricht und Mecklenburg-Vorpommern wie einen Schurkenstaat behandelt.« Sie wies darauf hin, dass es den USA nur darum gehe, in Konkurrenz zu Russland das eigene teurere Fracking-Erdgas an Deutschland zu verkaufen, und erklärte, dass jetzt die Bundesregierung gefragt sei.
Am 12. November hat der russische Außenminister angekündigt, die Strafmaßnahmen der EU im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj mit Sanktionen gegen leitende Beamte der Regierungsapparate in Deutschland und Frankreich beantworten zu wollen. Deutschland sei die Lokomotive bei der Androhung von Sanktionen gegen Russland gewesen. Es ist also eine weitere Verschlechterung in den deutsch-russischen Beziehungen eingetreten.
Um diesen für beide Länder schädlichen Zustand zu überwinden, ist es meines Erachtens erforderlich, dass die Bundesregierung sich so schnell wie möglich von der Verurteilung der russischen Führung wegen angeblicher Verantwortung für die Vergiftung von Nawalny öffentlich distanziert und dass die Androhung von Sanktionen gegen Russland sofort aufgehoben wird. Damit würde die Bundeskanzlerin ihre Bereitschaft zu Dialog und Versöhnung in den deutsch-russischen Verhältnissen beweisen, die sie am 2. September in ihrem Grußwort nach Moskau erklärt hatte.
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