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Revolution mit Anlauf
Aus den Protesten nach der jüngsten Präsidentenwahl in Belarus entstand eine starke Zivilgesellschaft
Nachdem Alexander Lukaschenko Mitte der 1990er Jahre als Präsident in Belarus an die Macht gekommen war, gab er den demokratischen Wandel auf, den es damals in vielen postkommunistischen Ländern gab. Er schuf ein autoritäres Modell, in dem der staatliche Sektor in der Wirtschaft vorherrscht, staatlicher Paternalismus praktiziert wird und an der Spitze Lukaschenko mit einer auf seine Person zugeschnittenen Macht steht.
Die jüngsten Präsidentschaftswahlen im August dieses Jahres lösten eine akute politische Krise aus. Um die Proteste mit harten Repressionen zu unterdrücken, wurde der belarussische Staat in weniger als zwei Monaten abgebaut und auf das Niveau eines politischen Regimes reduziert. Der Unterschied besteht darin, dass der Staat eigentlich den öffentlichen Bedürfnissen dient, die Beziehungen zwischen den Bürgern regelt und die Souveränität des Landes gegenüber externen Akteuren schützt. Ein politisches Regime hingegen ist auf die politische Macht fokussiert und ein Instrument zur Machterhaltung.
Dr. Valery Karbalevich, Jahrgang 1955, ist Politikwissenschaftler und Dozent an der Universität Minsk. Der Experte des Minsker Analysezentrums »Strategie« beschäftigt sich mit dem belarussischen politischen System, der Zivilgesellschaft sowie der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. 2010 veröffentlichte er das Buch »Alexander Lukaschenko. Ein politisches Porträt«.
Der hier vorgestellte Text erschien zuerst im Dezember-Heft des außenpolitischen Journals »Welttrends«. Die Ausgabe enthält einen Schwerpunkt zur Außenpolitik der Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei.
Zum Weiterlesen: welttrends. de
Seit den August-Wahlen ist der belarussische Staat nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. In Ermangelung einer Zivilgesellschaft und angesichts einer wenig entwickelten Nation waren staatliche Institutionen bisher die einzige Verbindung, die die Weißrussen zu einer zusammenhängenden Gesellschaft vereinten. Jetzt hat sich der Staat nicht nur geweigert, diese Funktion zu erfüllen, sondern die Behörden haben die Gesellschaft gespalten und der Mehrheit der Bürger den Krieg erklärt.
Der Staat stellt nun eine Gefahr für die Gesellschaft dar. In den vergangenen Monaten wurden das Rechtssystem und die Justizinstitutionen fast vollständig zerstört, Gesetze praktisch außer Kraft gesetzt. Die Spezialpolizei Omon wurde zur wichtigsten staatlichen Institution. Zwar ist die soziale Funktion des Staates bisher erhalten geblieben, er zahlt immer noch die Löhne und Renten des öffentlichen Sektors. Und es gibt bisher keinen Mangel in den Geschäften. Jedoch dominieren jetzt jene Funktionen des Staates, die auf die Sicherung der Macht zielen.
Geopolitischer Kontext
Viele Jahre lang propagierten die staatlichen Medien, Lukaschenko sei der »Vater der belarussischen Staatlichkeit«. Mit seiner Wahl sei Weißrussland als unabhängiger Staat gegründet worden. Jetzt gibt dieser Staat die Funktion eines Verteidigers der Souveränität auf. Lukaschenko bat Russlands Präsident Wladimir Putin, Truppen nach Belarus zu schicken, um seine Regierung zu schützen.
Während des Wahlkampfs beschuldigte Lukaschenko Russland, sich in die inneren Angelegenheiten Weißrusslands einzumischen. Unmittelbar nach den Wahlen und dem Beginn der Massenproteste machte er jedoch eine Kehrtwende. Er beschuldigte nun den Westen, in Belarus eine »Farbenrevolution« organisiert zu haben, und bat nun eben jenen Putin um Hilfe.
Was für eine Logik! Lukaschenko ist bereit, mit dem Führer eines Nachbarstaates über das Schicksal von Belarus zu verhandeln, aber nicht mit dem eigenen Volk. Für ihn ist ein Dialog mit dem Volk eine Demütigung, aber es ist akzeptabel, einen benachbarten Souverän um Hilfe zu bitten. Putin unterstützt Lukaschenko gegen das belarussische Volk. Ein Sieg der Revolution in Belarus ist ein Albtraum für den Kreml; ein schlechtes Beispiel für Russland. Es erinnert Putin daran, dass ein zu langer Machterhalt nicht gut endet und dass es in der Politik nur ein kleiner Schritt von der Liebe zum Hass ist.
Die Ereignisse des letzten Monats haben der internationalen Position von Belarus einen schweren Schlag versetzt. Der westliche Einfluss ist praktisch verschwunden. Die in den letzten Jahren praktizierte breit gefächerte Außenpolitik, die die Beziehungen zu verschiedenen Akteuren, auch und besonders zu den westlichen und nördlichen Nachbarn verstärkte, ist am Ende. Minsk nahm nun symbolische Sanktionen der EU zum Anlass, um zum Westen die Brücken abzubrechen, und provozierte Konflikte mit Polen und Litauen.
Die Rückkehr zur einseitigen Ausrichtung auf Russland bedeutet, dass die Außenpolitik im üblichen Sinne verschwindet. Der Einfluss Russlands auf die Prozesse in Belarus hat stark zugenommen. Vielleicht war die Aufkündigung der Beziehungen zur EU und zu den USA eine der Bedingungen Russlands, um das Lukaschenko-Regime zu retten. Die Einschränkung der Souveränität des Staates ist der Preis, den Lukaschenko zahlt, um die Macht zu behalten.
Aber Putin stellte auch eine andere Bedingung: Moskau hält es offenbar für falsch, die Krise in Belarus allein mit Gewalt zu lösen. Sowohl Putin als auch der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärten, Belarus benötige eine Verfassungsreform mit anschließenden Präsidentschaftswahlen. Die Reform, die angeblich in zwei Jahren durchgeführt werden soll, ist jedoch kein Ausweg aus der politischen Krise, sondern eher ein Versuch, der Hauptfrage der belarussischen Revolution auszuweichen, nämlich der nach der Legitimität des gegenwärtigen Regimes und damit Lukaschenkos Präsidentschaft.
Keine Rückkehr möglich
Es gibt mehrere Faktoren, die verhindern, dass sich Lukaschenko als Sieger fühlt. Die Proteste wirken sich politisch aus, trotz der harten Unterdrückung. Etwa 14 000 Menschen wurden bislang festgenommen, und das geht so weiter. Das ist ein Zeichen für die tiefe Krise in der Gesellschaft. Jeder sieht die Unterschiede der Akteure: die Nomenklatura, Lukaschenkos Anhänger, seine Gegner, die externen Akteure. Selbst wenn die gewaltsame Unterdrückung der Protesten Früchte tragen und die Proteste aufhören würden, so wird es keine Normalisierung geben. Wir werden nicht zu der Situation von vor sechs Monaten zurückkehren.
In der Zwischenzeit wurde eine Infrastruktur der sozialen Bewegungen geschaffen, darunter Informationskanäle, zivilgesellschaftliche Verbindungen in Gestalt von Wohngemeinschaften und Nachbarschaftshilfen oder Chats für die Kommunikation. Es wurden Mechanismen für eine einfache und schnelle Mobilisierung der Protestbewegung gebildet, die jederzeit genutzt werden können. Und in einer stark politisierten Gesellschaft, die in Bewegung geraten ist, droht bei jedem Anlass eine neue Explosion.
Die Taktik der Behörden besteht darin, die Protestbewegung zu spalten. Dazu gehörte Lukaschenkos Besuch in einer Untersuchungshaftanstalt. Am 10. Oktober 2020 traf er sich unangekündigt mit zwölf politischen Gefangenen. Ein kleiner Schritt in Richtung Kompromiss. Er hält seine Position offenbar nicht für so stark, wie es auf den ersten Blick erscheint. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus diesem seltsamen Besuch im Gefängnis.
Zugleich will er ein neues Zentrum der Opposition schaffen. Dieser Teil der Gegner des Regimes soll das Volk auffordern, die Proteste zu stoppen und sich an der Entwicklung einer neuen Verfassung zu beteiligen. Die Umsetzung dieser Taktik ist jedoch schlecht. Nach den von den Behörden vorgeschlagenen Regeln ist nur eine Person spielbereit: Yuri Voskresensky.
Die EU unterstützt derweil Swetlana Tichanowskaja, die nach Meinung der belarussischen Opposition die Präsidentschaftswahl gewonnen hat. Sie hat damit einen bedeutsamen internationalen Status erlangt. Davon zeugen auch ihre Treffen mit dem französischen Präsidenten, der deutschen Kanzlerin, der slowakischen Präsidentin sowie einer Reihe von europäischen Außenministern.
Gefahren für Lukaschenko
Weder die symbolischen EU-Sanktionen noch der Rückruf von Botschaftern gefährdet die Position von Lukaschenko. Selbst die Weigerung der EU, ihn als Präsidenten anzuerkennen, ist keine Gefahr für ihn. Aber die wirtschaftlichen Folgen sind gefährlich. Die Konfrontation mit den USA und der EU blockiert die Zusammenarbeit mit internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds. Ganz zu schweigen von westlichen Investitionen. Zudem besteht die Gefahr, dass das Projekt des belarussisch-chinesischen Industrieparks »Great Stone« scheitert. Immerhin sahen die Chinesen die Möglichkeit, Produkte von dort in die EU zu verkaufen. Für Peking ist aber ein Weißrussland, das sich im Konflikt mit der EU befindet, nur von geringem Interesse.
Lukaschenko wird irritieren, dass Putin mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Situation in Belarus und damit über sein politisches Schicksal spricht. Er spürt, dass Belarus in eine Phase permanenter politischer Krisen eingetreten ist, die nicht allein mit Gewalt gelöst werden können. Daher sein Versuch von Verhandlungen.
Angesichts des starken Drucks der protestierenden Bevölkerung und auch Russlands versucht Lukaschenko, erneut Handlungsspielraum zu gewinnen. Es sind gleichzeitig Signale an die belarussische Gesellschaft, an den Westen und an Russland. Wenn ein Dialog mit der Gesellschaft eine der Bedingungen war, die Putin stellte, wird Moskau mit dieser Form von Verhandlungen zufrieden sein, der Westen eher nicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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