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Kampf ums tägliche Überleben
In Chile lässt der Staat während der Coronakrise die Menschen im Stich
»Die Reichen sollen die Krise bezahlen«, liest man auf vielen Mauern in Chiles Hauptstadt Santiago. Im März wurden die ersten Covid-19-Fälle in Chile bestätigt. Es handelte sich hauptsächlich um Bewohner*innen der wohlhabenden Viertel im Osten von Santiago, die von Europa-Reisen zurückkehrten. Von dort aus breitete sich das Virus im Rest der Stadt und schließlich im ganzen Land aus.
Am 18. März verhängte Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand und nächtliche Ausgangssperren. Wenig später kam der Lockdown. Viele verloren ihre Arbeit und Einkommensquelle, rund die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in Chile hat keinen Vertrag und somit keinerlei Arbeitsschutz. Die Arbeitslosigkeit liegt mittlerweile auf dem höchsten Wert der letzten zehn Jahre.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Im Mai kam es zu Hungerprotesten in der Hauptstadt. Die Menschen forderten Unterstützung von der Regierung, um den Lockdown einhalten zu können. »Wenn uns nicht das Virus tötet, tötet uns der Hunger« oder »Piñera ist tödlicher als das Coronavirus«, stand auf Plakaten der Protestierenden in den Arbeiter*innenvierteln am Stadtrand von Santiago. Dort breitete sich das Virus besonders schnell aus, weil viele Menschen auf engem Raum leben. Das unterfinanzierte öffentliche Gesundheitssystem stand immer wieder kurz vor dem Kollaps, das Krankenhauspersonal vor dem psychischen Zusammenbruch.
Die staatlichen Hilfen beschränkten sich auf Lebensmittelkisten und ein paar Notfallzahlungen. Aber das reichte nicht aus. Im ganzen Land wurden ollas comunes, solidarische Suppenküchen, in den Stadtvierteln selbst organisiert. Die Parks füllten sich mit Zelten von Menschen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, und mit Flohmärkten, auf denen sie ihr letztes Hab und Gut verkauften. Hunderte Häuser und Grundstücke wurden besetzt.
Viele von der Opposition angestoßene Gesetzesvorhaben, die die Menschen in der Coronakrise schützen sollten, zum Beispiel Arbeitsschutzmaßnahmen oder die Deckelung von Medikamenten-, Strom- und Wasserrechnungen, wurden blockiert, weil sie verfassungswidrig sind. Denn die aus der Pinochet-Diktatur stammende Verfassung räumt privaten Unternehmen mehr Rechte ein als der Bevölkerung.
Die Forderung der Protestbewegung nach einer neuen Verfassung gewann deshalb immer mehr an Bedeutung. Nach dem Ende des fast sechsmonatigen Lockdowns in Santiago im September kehrten die Proteste zurück an die Plaza de la Dignidad, wie die Demonstrant*innen die Plaza Baquedano nennen. Beim Referendum am 25. Oktober stimmten knapp 80 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch einen vollständig aus gewählten Bürger*innen zusammengesetzten Verfassungskonvent ohne Beteiligung der Parlamentsabgeordneten.
Die Proteste auf der Plaza de la Dignidad gingen auch nach dem Referendum weiter. Die Demonstrant*innen fordern eine Aufklärung und Verurteilung der schweren Menschenrechtsverletzungen, die Freilassung der »politischen Gefangenen«, die bei den Protesten festgenommen wurden, und den Rücktritt der Regierung. Die Zustimmung für Piñera liegt lediglich bei sieben Prozent - niemand möchte eine neue Verfassung mit einer Regierung ausarbeiten, die von Anfang an die Protestbewegung bekämpft hat.
Soziale Organisationen, Nachbarschaftsversammlungen und politische Parteien bereiten sich auf die Wahlkampagnen für die verfassungsgebende Versammlung vor. Am 11. April werden die Mitglieder gewählt. Viele kritisieren, dass parteiunabhängigen Kandidat*innen die Teilnahme erschwert wird, da sie je nach Wahlbezirk mehrere tausend Unterschriften sammeln müssen, um sich überhaupt aufstellen zu lassen.
Viele Menschen in Chile kämpfen weiter ums tägliche Überleben. Im November stimmte das Parlament für eine Verfassungsreform, die den Arbeitnehmer*innen erlaubte, zehn Prozent ihrer Ersparnisse aus den privaten Rentenfonds zu entnehmen. Das sorgte zwar bei vielen für Erleichterung und wurde von der Opposition im Parlament als Siegeszug gegen die privaten Rentenfonds gefeiert. Aber viele Selbstständige, Arbeitslose, Migrant*innen und Menschen in informellen Arbeitsverhältnissen haben nie oder nur sehr wenig in die Fonds eingezahlt. Eines ist klar: Bisher haben die Armen und Arbeiter*innen die Krise bezahlt.
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