Der schüchterne Riese

Gabriel Clemens steht im Achtelfinale der Darts-WM. Starpotenzial hat er keins

Jeder andere hätte sich wohl aufgeplustert und die Brust geschwellt, gebrüllt und mit seinen Fäusten die Luft im Alexandra Palace durchschnitten. Gabriel Clemens aber versteckte lieber das Gesicht hinter seinen Händen. Da nennt sich einer »German Giant«, doch dieser angebliche Riese aus Deutschland machte sich ganz klein. Eine bessere Selbstbeschreibung hätte der introvertierte Clemens in diesem Moment kaum mit Worten finden können. Diese körperliche Reaktion im Augenblick seines bislang wohl größten Erfolgs sagte mehr als genug. Als erster deutscher Darts-Spieler war er am Sonntagabend ins Achtelfinale einer Weltmeisterschaft eingezogen, und ganz nebenbei hatte er dabei auch noch den schottischen Titelverteidiger Peter Wright in einem hochklassigen und ebenso spannenden Match mit 4:3 aus dem Turnier geworfen.

»Wer hier abschaltet, ist selber schuld. Der hat einfach keinen Sinn für guten Sport und für gutes Entertainment«, hatte Co-Kommentator Martin Schindler beim Fernsehsender Sport1 ins Mikro gebrüllt. Tatsächlich kommt Darts irgendwie nie ohne den Faktor Unterhaltung aus. Seien es die leider immer noch tanzenden Walk-On-Girls beim Einlaufen der Spieler. Die sich überschlagenden Stimmen der Ansager. Die extrovertierten Hemden, Frisuren und Gesten der Spieler. Das Feuerwerk oder die sonst verkleideten, grölenden Zuschauer (wenn nicht gerade eine Pandemie grassieren würde).

Gabriel Clemens passt da irgendwie nicht: Der brüllt nicht, der muss eher eine Träne unterdrücken. Der kommt nicht mit bunter Irokesenfrisur und Schlangenmalerei auf dem Schädel ans Brett wie Gegner Wright, sondern eher mit einem 10-Euro-Maschinenschnitt, der an manchen Stellen lichte Stellen hinterlassen hat. Da erreicht endlich mal ein Deutscher das WM-Achtelfinale - mit guten Chancen, sogar noch weiter zu kommen -, und dann ist es ein Albtraum für all die windigen Manager und Berater, die mit Darts endlich auch in Deutschland einen großen Hype auslösen wollen.

Gehofft hatten sie auf die Jüngeren, die sich gut vermarkten können: den »Maximizer« Max Hopp, der jedoch seit Jahren immer wieder früh scheitert, oder Martin »The Wall« Schindler, der es in diesem Jahr aber statt ans Brett nur hinters Mikro geschafft hat. Stattdessen ist Gabriel Clemens in der Weltrangliste unter die besten 32 vorgedrungen und nun ins WM-Achtelfinale. Der Mann aus der saarländischen Kleinstadt Saarwellingen könnte nie wie Hopp und Schindler Darts-Matches live kommentieren. Stattdessen antwortet er auf die Frage der Moderatorin nach seinen Innersten im bedeutendsten Augenblick seiner Laufbahn: »Im Moment gerade ziemlich leer.« Punkt. Kein weiteres Wort.

Dabei bedenkt ihn die bemitleidenswerte Moderatorin unablässig mit Superlativen. Sie spricht von Sensationssieg, Krimi, Gänsehaut. Ganz Deutschland sei aus dem Häuschen. Nur leider Gabriel Clemens am anderen Ende der Leitung nicht. Der sitzt coronabedingt allein in einem kleinen Zimmer an einem unscheinbaren Holztisch und sieht aus, als hätte er soeben verloren.

»Mir fehlen die Worte, aber ich bin natürlich total glücklich«, sagt er noch, ohne dass man ihm das irgendwie anmerken würde. Stattdessen analysiert er nüchtern. Der Weltmeister Peter Wright habe in der Mitte des Matches seine Probleme gehabt: »Da habe ich meine Chance bekommen, und die habe ich halt genutzt.« Was jetzt noch drin sei, wird er gefragt: »Keine Ahnung, darüber mach ich mir morgen Gedanken. Jetzt bin ich erst mal froh, wenn ich im Bett liege.« So effizient, wie Clemens zuvor die Pfeile geworfen hatte, so wählte er danach auch seine Worte - allen neumodischen Wertschöpfungsgedanken zum Trotz.

Der gelernte Industriemechaniker spielt zwar erst seit knapp drei Jahren halbwegs professionell, ist aber auch schon 37. Er wird sich kaum mehr ändern lassen. Es wäre auch eine Schande. Wer braucht schon diesen ganzen Hype, wenn es doch eigentlich nur darum geht, drei Pfeile auf eine Scheibe zu werfen? Das Brüllen kann man ja den Kommentatoren überlassen.

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