Ohne jede Seichtheit
Der Lyriker Levin Westermann sucht in seinen Essays nach Auswegen aus dem instrumentellen Denken
Spiritualität ist in Buchhandlungen in einem gesonderten Regal untergebracht, die Literatur versteht sich nicht als zuständig. Fragen nach dem Sinn des Daseins reicht sie leichtfertig an Ratgeber, Coaches und Lebenshilfe-Gurus weiter. Zeitgenössische Literatur, so hört man oft, habe Wichtiges zu leisten, sie müsse unbedingt politisch sein. Der Lyriker Levin Westermann widerspricht dieser Anforderung: »Ein Gedicht, das mit der expliziten Absicht geschrieben wird, eine aktuelle politische Meinung auszudrücken, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
Erfrischend ist diese Absage vor allem, weil sie auf die falsche Fährte führt. Denn Westermanns erster Essay-Band »Ovibos moschatus« ist keineswegs unpolitisch, der 1980 geborene Autor geht nur einen anderen Weg. Er skizziert zunächst seine Spiritualität, eine Art Best Practice im Umgang mit der Welt und Umwelt, um sodann zu einer Generalkritik am modernen Menschen zu schreiten. Wie sieht diese Spiritualität aus? Es ist eine Erfahrung der Gemeinschaft mit dem Leben und dem Lebenden, eine Verbindung, die sich durch bewusst wahrgenommene Gleichwertigkeit auszeichnet. Der Autor lebt diese Verbindung in sehr konkreten Momenten, etwa im Umgang mit Tieren, wenn er Kühe streichelt, mit Schweinen spricht oder wenn er joggend sowohl in den Wald als auch in sich selbst hineinhorcht.
Ganz ähnliche Erfahrungen macht Westermann aber auch mit der Kunst, beim Betrachten eines Monet, vor allem aber in der Literatur, die für ihn immer »ein Gespräch mit den Toten« ist. Schreiben bedeutet für ihn auf andere Autoren zu antworten. Westermann gibt diese Gemeinschaft Halt, sie hat ihn aus einer tiefen Depression gerettet.
Sein Verhältnis zur Kunst wie zur Natur ist existenziell, nur in dieser Beziehung stehend, scheint er sich selbst positiv wahrnehmen zu können. Dieses Lebensgefühl in Kontakt zu stehen mit Bäumen, Tieren und toten Dichtern nimmt Anleihen beim Schamanismus arktischer Kulturen, deren Verhältnis zur Welt noch kein Machtverhältnis war, denen selbst das Wort »Umwelt« wohl nichts gesagt hätte, weil sie sich in ihrem Zentrum sahen.
Westermann beklagt in seinen Essays den Abbruch dieser Beziehung, versucht ihre Reste in Spuren alter Kulturen aufzufinden, schreibt über Druiden, native americans, Inuit und andere nordische Kulturen. Die meisten von ihnen gingen unter, als die Kolonialisten aus der Alten Welt sie und die Natur mit ihrer überlegenen Technologie unterwarfen. Westermann prangert dieses Gewaltverhältnis an, das seither den Lauf der Welt beherrscht.
Als einen Haupttäter macht er René Descartes aus. Dessen »Cogito ergo sum« definierte und ermächtige den modernen Menschen, allerdings zu einem hohen Preis. Tiere waren für Descartes nicht fähig, sich selbst zu erkennen, und damit nicht mehr als Automaten aus Fleisch. Der Aufklärer schnitt sie selbst bei lebendigem Leib auf, um ihre Organe zu studieren. So verstanden ist der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit gepflastert mit Kadavern.
Einen großen Teil des Buches nimmt dann auch die Kritik an der Verhaltensbiologie ein, die weiterhin am Tier als dem anderen festhalte, da es bei ihnen keine ausreichenden Hinweise auf Intelligenz oder Emotionen gäbe. »Wir denken uns komplizierte Experimente aus, in denen Tiere auf Fähigkeiten geprüft werden, die für sie in ihrer natürlichen Umgebung keine Rolle spielen, führen diese Tests in sterilen Laborsettings durch und fühlen uns dann noch bestätigt, wenn das verängstigte Tier den Test nicht besteht.« Ohnehin misstraut er seiner eigenen Spezies. Philosophie und Geschichtsschreibung sind für ihn nichts als Bemühungen, Machtverhältnis zu legitimieren. Dabei erinnert seine Zivilisationskritik stark an die »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer, zudem kamen aus der Philosophie in den letzten Jahren die fundiertesten Schritte hin zur Entwicklung einer Tierethik. Auch die Kritik an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen träfe besser, würde Westermann nicht so deutlich machen, dass er schon weiß, welche Erkenntnisse sie fördern müssten. In seinem Zorn gerät Westermann argumentativ mitunter auf Holzwege und in Zirkelschlüsse hinein. Dass es für manches, was er als evident beschreibt, keine belastbaren wissenschaftliche Beweise gibt, scheint ihm dann geradezu als Beweis zu dienen, dass Wissenschaft versagt.
Gleichwohl bietet dieses Buch wertvolle Impulse. Denn anders als die Bücher aus dem Spiritualismus-Regal geht Westermann jede Seichtheit ab. Hier leidet ein sehr sensibler Mensch an der Beschaffenheit Welt. Anstatt hart oder zynisch zu werden, fordert er dazu auf, weich zu werden. Das ist eine mächtige Geste, in ihr zeigt sich die enorme Kraft, die Natur und Kunst in diesem Autor entfachen.
Levin Westermann: Ovibos moschatus. Essays. Matthes & Seitz, 202 S., geb., 20 €.
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