Poltergeist im Klassenkampf

Frédéric Valin beklagt die Domestizierung der Gespenster

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 3 Min.

Die berühmteste Poltergeist-Geschichte in Großbritannien handelt vom Trommler von Tedworth. 1661 beschlagnahmte ein örtlicher Hausbesitzer die Trommel des Landstreichers William Drury. Der schwor bittere Rache. Und von Stund an trommelte es des Nachts im Hause des Landlords. Selbst als die Trommel feierlich verbrannt wurde, hörte der Spuk nicht auf; nur die Kinder bekamen nichts mit von den Umtrieben.

Dieser Poltergeist ist also die Vergeltung des entehrten und geknechteten Lumpenproletariats gegenüber dem Bürgertum, das es seiner authentischen Ausdrucksart beraubt. In seiner »Naturgeschichte der Gespenster« definiert Roger Clarke Poltergeister als eigene Kategorie, die nicht die Seele eines Verstorbenen darstellen, sondern ein emotionales Energiefeld. In der Typologie der Geister lebt noch heute ein ständisches Bewusstsein fort: Das Recht auf eine Gestalt haben nur ehemals bedeutende Persönlichkeiten, während rangniedere Personen als unsichtbarer Spuk widerhallen.

Die Geschichte von Drury gilt allgemein selbst unter parapsychologisch affinen Menschen als Schwindel. Eine der Theorien nimmt an, dass Kompagnons Drurys das Haus nachts aufsuchten. Die Begebenheit fand aber große Aufmerksamkeit unter Zeitgenossen und auch darüber hinaus. Samuel Pepy erwähnt sie in seinem Tagebuch, mutmaßlich ist Henry James die Geschichte bekannt gewesen und soll ihn zu seiner Novelle »Das Durchdrehen der Schraube« inspiriert haben. Als sie erschien, 1898, waren Okkultismus und Spiritismus ähnlich en vogue wie zu Beginn der Neuzeit.

Henry James erzählt darin die Erlebnisse einer Gouvernante, die auf einem Landhaus zwei Kinder betreut. Ihr erscheinen immer wieder die Geister des ehemaligen Hausdieners und ihrer Vorgängerin, die beide als aufsässig galten - vielleicht auch als übergriffig - und unter ungeklärten Umständen ums Leben kamen. Die Gouvernante versucht, die Kinder mit allen Mitteln zu schützen, aber vergeblich: Eines erleidet einen Nervenzusammenbruch, das andere stirbt an Herzversagen.

James’ Erzählung hat eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen erfahren, darunter auch die marxistische Lesart, dass die Dienerschaft in den Zeiten des Verfalls der gesellschaftlichen Ordnung die Sicherheit der von den Kindern repräsentierten Oberschicht bedroht. Ein Aspekt, der in der ursprünglichen Geschichte angelegt ist und bei James ausgespart wird, ist eine weitere Schuld des Bürgertums: Clarke weist darauf hin, dass viele der an der Trommler-Geschichte Beteiligten in den transatlantischen Sklavenhandel involviert waren.

Das Potenzial von Horrorfilmen, historische Schuld aufzugreifen und durch Psychologisierung zu Grauen zu verarbeiten, ist ab den 1980ern in den Hintergrund getreten, nachdem Regisseure wie Steven Spielberg aus dem Material rührselige Mittelschichtskammerstücke gemacht hatten. Es kehrt jetzt zurück in Filmen wie »Wir« oder »His House«, die ironischerweise als emanzipatorische Erfolge gefeiert werden, weil darin die Lebenswirklichkeiten schwarzer Familien auftauchen. Letztendlich werden aber ebenjene Überlebenden selbst von der Schuld des Überlebens heimgesucht.

An den Reichen und Mächtigen dürfen sich nicht einmal Geister heute noch rächen. Außer sie sind Zombies. Die walzen dann einfach alles nieder.

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