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Rot-Grün nach Ampel-Aus auf Abruf
Nach dem Bruch mit Christian Lindner führen die verbliebenen Kabinettsmitglieder die Regierungsgeschäfte vorerst weiter
Es gibt etliche divergierende Darstellungen, wer warum den Bruch der Ampel-Koalition verantwortet und herbeigeführt hat. Kanzler Olaf Scholz (SPD) begründete seine Ankündigung, er wolle Finanzminister Christian Lindner entlassen, mit dessen zahllosen Vertrauensbrüchen. Indirekt auch damit, dass »Bild« noch während der Sitzung des Koalitionsausschusses am Mittwochabend berichtet hatte, die FDP werde die Koalition aufkündigen und Neuwahlen verlangen. Allerdings wirkte die Rede des Regierungschefs, als sei sie lange vorbereitet gewesen.
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) wiederum betonte am Donnerstag im »Deutschlandfunk«, die FDP sei trotz Entgegenkommens etwa von seiner Seite nicht zu einer Einigung auf den Bundeshaushalt 2025 bereit gewesen, obwohl diese sehr leicht erreichbar gewesen wäre. Schließlich habe er angeboten, mit den zehn Milliarden Euro an geplanten Subventionen für das geplante Intel-Halbleiterwerk in Magdeburg das bestehende 17-Milliarden-Loch im Etat weitgehend zu stopfen. Der US-Konzern hatte den Bau der Fabrik abgesagt.
Wegen seiner Kompromisslosigkeit sei Lindner am Ende nicht mehr tragbar gewesen, so Habeck. Deshalb halte er die Entscheidung von Scholz für richtig. Schließlich müsse der Finanzminister Teamplayer sein und die Entscheidungen des Gesamtkabinetts mittragen, während etwa der Verteidigungsminister Lobbyist der Bundeswehr und die Umweltministerin Lobbyistin der Umwelt sein müsse und dürfe.
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Wie seine Parteifreundin Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich Habeck enttäuscht, dass die FDP auch nach dem Sieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl nicht zur Ausrufung einer Notlage bereit gewesen sei, die ein Aufweichen der Schuldenbremse im Grundgesetz ermöglicht hätte. Dies sollte nach dem Wunsch von SPD und Grünen vor allem zur Finanzierung der militärischen Unterstützung der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren dienen.
Letztlich pfiffen es die Spatzen schon von den Dächern, dass die FDP die Koalition wohl diese Woche aufkündigen würde. Spätestens seit das Konzept Lindners für eine »Wirtschaftswende« an die Öffentlichkeit gelangte – »nd« lag es bereits am 1. November vor –, war klar, was der Finanzminister wollte. Der FDP-Chef erklärte Anfang dieser Woche, sein Papier müsse Grundlage der weiteren Verhandlungen über Haushalt und Wirtschaftspolitik der nächsten Monate sein. Ansonsten bestehe keine Basis mehr für eine weitere Zusammenarbeit, teilte Lindner kaum verklausuliert mit.
In seiner Reaktion auf seine Entlassung klagte der FDP-Chef, das Konzept sei von SPD und Grünen von vornherein abgelehnt worden. Tatsächlich hatte die Ko-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, erklärt, in Lindners Papier gebe es nichts, das mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung umsetzbar wäre. Dagegen hatten sich die Grünen verhandlungsbereit gegeben. Wahr dürfte sein: Alle Seiten wussten vor dem Mittwochabend, dass es zum Showdown kommen würde.
Und wie geht es nun weiter? Erst einmal werden SPD und Grüne als Minderheitsregierung weitermachen. Die Aufgaben wurden bereits verteilt, am Donnerstag erfolgte ein schneller Wechsel: Lindner erhielt von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Entlassungsurkunde. Als neuer Finanzminister wurde SPD-Mann Jörg Kukies im Bundestag vereidigt, nachdem er von Steinmeier seine Ernennungsurkunde erhalten hatte. Bislang war er Wirtschaftsberater von Scholz.
Auch Justizminister Marco Buschmann und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, beide FDP, erhielten im Schloss Bellevue ihre Entlassungsurkunden. Volker Wissing, der einzige bisherige FDP-Mann, der in der Regierung bleibt, übernahm neben dem Verkehrs- nun auch das Justizressort. Und Agrarminister Cem Özdemir betreut ab sofort das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit.
Spätestens seit dem Öffentlichwerden des Wirtschaftswende-Konzepts von Christian Lindner pfiffen es die Spatzen von den Dächern, dass die Koalition platzen würde.
Die Fraktionen von SPD und Grünen müssen im Bundestag erst einmal auf wechselnde Mehrheiten setzen, was unter anderem das Gesetz zur Umsetzung der Verschärfung des Gemeinsamen Asylsystems (GEAS) der EU betrifft, die SPD und Grüne genauso vorantreiben wie die FDP – und auf das sich das Kabinett noch am Mittwoch geeinigt hatte, also wenige Stunden vor der Trennung.
Die Ampel verfügte über eine komfortable Mehrheit von 415 der derzeit 733 Parlamentssitze. Ohne die FDP hat die verbliebene rot-grüne Koalition nur noch 324 Mandate, womit ihr 43 für die erforderliche Mehrheit fehlen.
Kanzler Scholz kündigte an, er werde am 15. Januar im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, um den Weg zu Neuwahlen im März zu beschreiten. Dieser ist im Grundgesetz genau festgeschrieben. Nach Artikel 68 kann der Bundeskanzler im Bundestag beantragen, ihm das Vertrauen auszusprechen. Er kann, aber muss dies nicht mit der Durchsetzung eines konkreten Gesetzesvorhabens verknüpfen. Zuletzt verfuhr der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2005 so.
Umstritten ist dieses Vorgehen, weil es, anders als im Grundgesetz intendiert, nicht darauf abzielt, das Vertrauen ausgesprochen zu bekommen, sondern im Gegenteil darauf, die dafür nötige Mehrheit zu verfehlen. Wenn nur eine Minderheit der Abgeordneten Scholz das Vertrauen ausspricht, wie dieser es erwartet, wird er den Bundespräsidenten bitten, das Parlament aufzulösen.
Dafür hat dieser nach Artikel 68 maximal 21 Tage Zeit. Er ist nach dem Grundgesetz allerdings nicht verpflichtet, dies zu tun. Macht er es, dann muss gemäß Artikel 39 innerhalb von 60 Tagen ein neuer Bundestag gewählt werden. Scholz strebt nach eigenen Angaben die vorgezogene Wahl im März an, also sechs Monate vor dem regulären Termin am 28. September 2025.
2005 verlief der Prozess so: Am 1. Juli verlor Schröder die Vertrauensfrage. Am 13. Juli schlug er Bundespräsident Horst Köhler die Auflösung des Bundestages vor, was dieser am 21. Juli tat. Zugleich setzte Köhler eine Neuwahl für den 18. September an. Von der Vertrauensfrage bis zur Wahl vergingen somit 79 Tage.
Die Wahlorganisation wird eine Herausforderung. Der Bundeswahlausschuss muss über die Zulassung von Parteien für die Wahl entscheiden. Die Wählerverzeichnisse müssen aktualisiert, die Wahlberechtigten benachrichtigt, Briefwahlunterlagen verschickt und die Wahlausschüsse gebildet werden. Aus Sicht von Bundeswahlleiterin Ruth Brand wäre ein kurzfristiger Termin aber kein Problem. Man sehe keine besondere Herausforderung, sagte ein Sprecher der Behörde der Deutschen Presse-Agentur.
Schwierig wird das Prozedere der Kandidatenaufstellung für die Parteien, die zudem ihre Wahlprogramme nun im Schnellverfahren beschließen müssen. Zwar sind die Vorbereitungen angelaufen und in einigen Wahlkreisen schon Kandidaten nominiert worden. Doch alle Landesverbände der Parteien müssen auf Delegiertenkonferenzen auch Kandidatenlisten aufstellen. Die Spitzenkandidaten werden in der Regel von Bundesparteitagen bestimmt. Dazu kommen die Wahlkampagnen, die organisiert werden müssen und vielfach von Basismitgliedern getragen werden.
Die Vorsitzenden von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, betonen derweil seit längerem, dass ihre Parteien auf einen frühen Termin vorbereitet seien und sofort in den Wahlkampf starten könnten. »Die Materialien sind komplett fertig«, sagt Söder. Man könne sofort damit anfangen, Plakate zu kleben und Spots zu senden. Die CDU hat zudem im Frühjahr ein neues Grundsatzprogramm beschlossen.
Ob die SPD ihr Wahlprogramm unter den neuen Zeitvorgaben wie geplant »zusammen mit Bürgern« erarbeiten kann, bleibt abzuwarten. Doch auch die Sozialdemokraten geben sich zuversichtlich. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sagt: »Wir stehen in den Startlöchern.«
Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht, das erst im Januar offiziell gegründet wurde, ist zuversichtlich. Allerdings hat es in Bayern, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern noch nicht einmal Landesverbände gegründet. Die Gründung sei aber für die kommenden Wochen geplant, sagte eine Sprecherin der dpa. Mit der Entwicklung des Bundestagswahlprogramms habe man bereits begonnen.
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