• Kultur
  • Gerhard Wolf »Herzenssache«

Geistige Zeitgenossenschaft

Gerhard Wolfs neues Buch »Herzenssache« ist ein Gespräch über die Zeiten hinweg.

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Dies ist ein Autor, der das Prinzip Zurückhaltung kultiviert wie kein anderer. Nie hat er sich selbst inszeniert. Nie hat er so etwas wie Freude am Streit gehabt. Podien flieht er. Meinungen aller Art sind ihm suspekt. Denn daran ist kein Mangel. Woran dann? Gerhard Wolfs neues Buch »Herzenssache« mit dem Untertitel »Memorial - Unvergessliche Begegnungen« ist im Grunde eine Fortschreibung all derjenigen Bücher, die er bislang in seinem langen Leben als Essayist, Lektor und Verleger selbst schrieb oder aber bis zum Druck begleitete. Doch dieser ebenso stille wie beharrliche Geburtshelfer des fragenden Wortes, das nach Schönheit sucht, trifft immer auch auf Umstände, die dieser hinderlich sind. Manchmal sind die Umstände übermächtig und an ihrer Hässlichkeit zerbricht ein Autor. Sein Werk bleibt dann bestenfalls Fragment.

Hölderlins »Wozu Dichter in dürftiger Zeit?« verwandelt sich bei Gerhard Wolf in einen Imperativ: Dichter wird man nur in dürftiger Zeit! Aber auf verschiedene Weise ist die Zeit der Kunst gegenüber immer »dürftig« - es kommt darauf an, sich gegen die wechselnden Verhinderungs- und Entwertungsmechanismen zu wappnen. Wie, das zeigt er in seinem neuen Buch wiederum auf unverwechselbar insistierende Weise, Welten eröffnend, bevorzugt jene miniaturisierten, die das laut auftrumpfende Meinungsmainstream nicht kennt. Gerhard Wolf besteht auf dem intimen Gespräch verwandter Geister über die Zeiten hinweg. Kunst schafft sich dabei einen eigenen Raum - mitten in der Zeit. Hans-Dieter Schütt schrieb: »Dieser Mann kann mit aller Lebensschwere spielen und andere davon überzeugen, dies sei wirklich ein leichtes Spiel.«

Dieser neue Band mit Essays des 1928 geborenen Wolf ist auch - wie übrigens schon seine frühesten Texte - eine Art Lebensresümee. Welch barocke Wunderkammer der Erinnerung an Dichtung und Kunst, uns übergeben als Wegzehrung für eigene noch zu gehende Wege! Aber ganz so stimmt das auch wieder nicht: Wolf kultiviert den »Januskopf« (nachdem er seinen kleinen aber jederzeit unübersehbaren Verlag Janus Press benannte), also den doppelten Blick. Er bleibt in aller Hingabe an die Dichtung ein Skeptiker. Nein, die Welt kann man mit ihr nicht retten und auch sich selbst nur für Momente. Aber in diesen schimmert dann etwas auf, das über das eigene Ende hinaus weist.

Rücksichtsvoll wie Wolf war und ist, überschüttet er uns also nicht, er wählt aus, hält sich wie immer zurück und gibt dem Leser Platz für eigene Imagination. Dieses Buch erliegt nicht der Versuchung, anderen Ballast sein zu wollen. Einen wie ihn bemerkt man nie - oder aber auf eine Weise, die zum Ferment für Eigenes wird. So für mich sein 1971 erschienenes Buch »Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski mit Fotos von Roger Melis. Die Welt des Dichters passt hier in ein einziges Zimmer, gelegen in seinem Haus, Ahornallee 26 in Berlin-Friedrichshagen. Bis vor wenigen Jahren konnte man diesen Lebensort so besichtigen, wie er nach des Dichters Tod 1965 zurückgeblieben war. Nun nicht mehr, die Gegenwart forderte ihr Recht. Gut, dass wir dieses nicht mehr vorhandene Zimmer mit Wolf dennoch jederzeit betreten können. «Beschreibung eines Zimmers» beginnt mit den berühmten Sätzen: «Ein Zimmer, das sind vier Wände mit Türen und Fenstern, mit Decke und Boden. Dreidimensionaler Raum: Länge, Breite, Höhe. Aber durch die Tür kommt man herein, und die Fenster weisen hinaus. Ständiges Kommen und Gehen, Verweilen, Verlassen - die vierte Dimension, die Zeit.»

Wie Wolf hier die Dichtung Bobrowskis gleichsam von innen her aufschließt, das verknüpft Bilder und Gedanken auf eine selbst poetische Weise, wie sie den Essay auszeichnet. «Litauische Claviere», «Sarmatische Zeit» - all das tastet nach einer Heimat, die es in der vorfindlichen Realität nicht geben kann. Dort stößt man immer auf Fremdheit, aber die poetische Anverwandlung selbst wird bei Bobrowski, wie bei Wolf auch, zur fragilen Form von Heimat. Tief taucht die Dichtung ein in jenes Schweigen, das sich nur immer unvollkommen in Worte übersetzen lässt. Man sollte wie bereits Bobrowski und Wolf wieder Johann Georg Hamann über die Sprache lesen, mit der es unendlich sorgsam und keinesfalls instrumentell umzugehen gilt, denn hier operiert man immer am offenen Lebensnerv von Kultur. Bobrowski bringt Hamanns sprachphilosophischen Ausgangspunkt, dass Wörtern ein «ästhetisches und logisches Vermögen» innewohnt in einen ebenso einfachen wie treffenden Satz: «Ich muss es gut lesen und sprechen können, was ich da geschrieben habe.»

Das Gespräch mit Bobrowski über das, was das Wort zu einem dichterischen macht, nimmt Wolf in seinem «Memorial» wieder auf. Denn es ist ihm buchstäblich eine Herzenssache. Diesmal führt ihn der Weg über Gerhard Altenbourg, den bedeutenden, aber sträflich unbekannten Grafiker, der zu Bobrowski eine Reihe von Lithografien schuf, die das Unsagbare im Bild mit erscheinen lassen. Das führt Gerhard Wolf dann weiter zu Horst Sagert und Horst Hussel. Überhaupt die bildenden Künstler! Über den Maler Albert Ebert, der das Prinzip Miniatur als Welterklärungsform kultivierte, hatte Wolf bereits ein Buch geschrieben - auch dies ein Gespräch unter verwandten Geistern.

Natürlich lesen wir auch etwas über die befreundete Nuria Quevedo, die Katalanin aus Barcelona, die seit 1952 in Berlin lebt und deren Bilderwelten ihn faszinieren. Oder über die Malerin Angela Hampel, die mit Expression Bewehrte. Carlfriedrich Claus, dessen labyrinthische, sich fast schon im Mikroskopischen unsichtbar machende Kunst will immer auch als Denkmodell verstanden werden - und harrt der Entdeckung, die hier Erforschung bedeutet. Welch Überfülle versammelt dies Buch für den Kundigen! Und so schließen sich bei Gerhard Wolf Kreise. Es sind immer die gleichen, neu betrachtet und bedacht. Mit Christa Wolf hatte Gerhard Wolf in den 80er Jahren den Essayband «Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik» veröffentlicht. Darin finden sich von Gerhard Wolf «Der arme Hölderlin» und Texte über Achim von Arnim (während Christa Wolf über Bettina von Arnim schrieb), über Heine in Berlin mitsamt dem Zusammenhang von Romantik und Revolution.

Entdeckung ist dem Autor allzeit Wiederentdeckung. Das betrifft die ehemals jungen, wilden Lyriker vom Prenzlauer Berg, denen er in der von ihm edierten «Außer der Reihe» im Aufbau-Verlag einen Platz gab, er erinnert auch hier an Bert Papenfuß, Detlef Opitz oder Andreas Reimann. Auch dabei dem Anspruch folgend: «Ich spreche nicht von faktischer, sondern poetischer Zeugenschaft.» Die Maßgaben einer solchen gilt es für jeden Einzelnen selbst zu entdecken. Und Gerhard Wolf, der Essayist und Freund der Dichter, erweist sich hierin als jener «Vorläufer», als den der junge Georg Lukács den Essayisten ansah. Man entdeckt mit ihm Louis Fürnberg neu, spricht mit Stephan Hermlin und Volker Braun, für den die Dichtung eine Geschichte der Zeit ist. Ein Kosmos im Kleinen, der mit Lust bewältigt werden will. Über den ihm eigentlich geistverwandten Günter de Bruyn vermag Wolf sich dann auch wieder zu wundern, wenn er notiert: «Manchmal glaubt man schon, nicht in der gleichen Wirklichkeit gelebt zu haben, um mit Goethe zu sprechen: ›Man weiß eigentlich das, was man weiß, nur für sich selbst.‹» So ist es, aber im Idealfall findet man Gefährten, die diese Erinnerungen zu teilen bereit sind. In Zustimmung wie in Widerspruch. All das vereint dieses ebenso altersweise wie jugendfrische Buch durch etwas, das kostbar bleibt: geistige Zeitgenossenschaft, die Brücken zwischen den Generationen zu schlagen vermag.

Gerhard Wolf: Herzenssache. Memorial - Unvergessliche Begegnungen. Aufbau-Verlag, 285 S., geb., 22 €

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