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Corona-Chaos in Skigebieten
JEJA NERVT: Zum Abschluss des Coronajahres haben wir uns von den relativ Reichen auf der Nase herum Snowboard fahren lassen
Erinnern Sie sich noch an den Sommer? Als Corona-Assis auf Mallorca unsere Geduld auf die Probe stellten und ohne Abstand oder Masken feierten? Das Entsetzen war groß. Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery forderte damals, alle Mallorca-Urlauber*innen zwei Wochen in Zwangsquarantäne zu stecken. Das sollte nicht nur klingen wie eine Strafe. Die Feier zwischen Bier- und Schinkenstraße erzeugte ein großes Debattenecho über die Coronamoral. Doch als in den Tagen »zwischen den Jahren« der Ansturm auf die Skigebiete jeden Sicherheitsabstand zunichte machte, als wäre Ischgl nie geschehen, war der Aufschrei verhalten. Könnte das etwas damit zu tun haben, dass Arme auf Mallorca saufen, während Reiche in den Alpen Ski fahren?
Man könnte einwenden, dass sich die beiden Fälle kaum vergleichen ließen: während sich im Sommer Besoffene in den Armen lagen und zweifelhafte Partykracher grölten, gehe es an den Skipisten doch noch einigermaßen gesittet zu - mit entsprechenden Auswirkungen für das Infektionsgeschehen. Doch den Vergleich der Verantwortungslosigkeit muss die Skisause wahrlich nicht fürchten: am 10. Juli meldete Deutschland 432 Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Am 24. Dezember hingegen lag dieser Wert bei über 32 000. Das sind fast 75 mal so viele! Am 10. Juli meldeten die Ämter acht Todesfälle in Zusammenhang mit dem Virus, am 24. Dezember waren es ganze 913 Tote. Der Faktor hier: 114. Und während wir fast alle im Sommer auch angesichts der niedrigen Infektions- und Todeszahlen ein bisschen lockerer mit dem Virus umgegangen sind, soll gegenwärtig angeblich ein »harter« Lockdown herrschen.
Dabei hatten in besagter Partynacht von Mallorca im Juli diesen Jahres nur einige hundert Deutsche gefeiert. Die Gemeinde Winterberg in Nordrhein-Westfalen ermahnte dieser Tage Besucher*innen, zu überlegen, ob eine Anreise wirklich erforderlich sei. »Aufgrund der hohen Nachfrage ist mit kilometerlangen Staus zu rechnen«, hieß es außerdem auf der Website der Kleinstadt. Die Bilder vom Schwarzwald bis ins Erzgebirge, wo aufgrund der besonders brenzligen, sächsischen Coronalage noch mal schärfere Einschränkungen herrschen, sind die selben. Doch prominente Kommentator*innen und Verurteilungen der rücksichtslosen Winterausflügler*innen finden sich nicht.
Es ist doch offensichtlich: das ganze Geld, das einige Mitbürger*innen haben und das anderen fehlt, macht unempathisch. Das ist durch sozialpsychologische Studien übrigens belegt. Obwohl wir täglich von Hunderten Toten hören, gibt es relevante Bevölkerungsschichten, die sich kraft ihrer Finanzen einer Beziehung zum Rest der Gesellschaft entbunden fühlt. Der relative Reichtum verursacht ja auch tatsächlich das Privileg, sich von allzu viel Tuchfühlung mit seinen Mitmenschen und den harten Realitäten zu distanzieren: große Wohnung, am besten schallisoliert, um das Geschrei von nebenan nicht zu hören. Großes Auto, das im Falle eines Unfalls die alleinerziehende Krankenpflegerin in ihrem Polo von 1998 als Knautschzone benutzt. Manier und Bildung für die Kinder, damit auch die nicht mitkriegen müssen, welche Probleme an Haupt- und Realschulen Alltag sind.
Aus dieser Perspektive ließe sich über Mallorca-Urlauber*innen gönnerhaft hinwegsehen. Doch als auf der Palmeninsel der Bär steppte, sah die ganze Nation hin. Man ergötzte sich an den Videoaufnahmen der Feiernden. Zur Distanzierung, zur Beziehungslosigkeit durch die Klassenlage tritt also noch ein weiteres Element hinzu: Klassenhass, Sozialchauvinismus. Das obsessive Treten nach unten.
Sagen wir also, wie es ist: zum Abschluss des Coronajahres haben wir uns vom Mittelstand, von den relativ Reichen dieser Gesellschaft, auf der Nase herum Snowboard fahren lassen. Es ist ein irrer Tanz auf den Gräbern Hunderttausender, der in den nächsten Tagen erst mal kein Ende finden wird. Im kapitalistischen Patriarchat hört die Vernunft auf, wo das Privileg der Kaufkräftigen beginnt.
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