Alles-oder-Nichts-Moment in Georgia

Bei den Stichwahlen zum US-Senat in Georgia wird um die parlamentarische Mehrheit im Oberhaus gekämpft - unter hohem Einsatz

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 9 Min.

»Das ist ein Alles-oder-Nichts-Moment für das Land, wenn die Demokraten in Georgia verlieren, werden wir ein paar dunkle Jahre in den USA haben«, sagt Nick Tagliaferro. Er beobachtet für den progressiven Think Tank Data For Progress Wahlkämpfe, aktuell die Stichwahlen für den US-Senat in Georgia. Am Dienstag Abend wird er, wie viele andere Menschen im Land, gebannt auf die Zahlen auf seinem Computerbildschirm und die im Fernsehen gucken. Auch die Republikaner warnen dramatisch. Die Wiederwahl ihrer Senatoren wird in Fernsehanzeigen als die »letzte Verteidigungslinie gegen den Sozialismus« dargestellt. Denn: Der Pfad der Demokraten zu einer knappen parlamentarischen Mehrheit im US-Senat ist ein denkbar schmaler, aber es gibt ihn.

Wie enorm das Interesse sowohl von politisch interessierten Kleinspendern als auch durch das Großkapital ist, zeigen diese Zahlen: Beide Seiten haben insgesamt mehr als 500 Millionen Dollar investiert, die Republikaner sind dabei im Vorteil. Damit sind die zwei Senatswahlen schon jetzt die teuersten der US-Geschichte. Es geht um die Mehrheit im US-Senat und damit um die Frage, ob die Demokraten und der neue US-Präsident Joe Biden ihr Programm - oder zumindest Teile davon - umsetzen können. Oder, ob Joe Biden schon zu Beginn der neuen Demokraten-Herrschaft über das oberste Amt im Staat durch einen republikanisch dominierten Senat ausgebremst oder - was wahrscheinlicher erscheint - durch den aktuellen und vielleicht auch neuen republikanischen Mehrheitsführer Mitch McConnell blockiert wird, wie es Barack Obama in den Jahren nach 2010 erging.

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Derzeit haben die Demokraten 48 Senatoren, die Republikaner 52 – bei Abstimmungsgleichstand würde die neue demokratische Vize-Präsidentin Kamala Harris die entscheidende Stimme abgeben. Laut Umfragendurchschnitt der Datenjournalisten von FiveThirtyEight ist es ein Kopf-an-Kopf-Rennen innerhalb des Fehlerbereiches, die Demokraten Jon Ossoff und Raphael Warnock liegen 1,8 Prozentpunkte beziehungsweise 2,2 Prozentpunkte vorne. Anders als in einigen anderen Bundesstaaten wichen die Umfragen in Georgia im November nur sehr wenig vom Wahlergebnis ab.

Alle sechs Jahre werden im Zwei-Jahresabstand die zwei Senatsmandate für jeden US-Bundesstaat neu vergeben. In Georgia steht turnusmäßig der Republikaner David Perdue zur Wiederwahl an. Weil dessen Parteikollege Johnny Isakson Ende 2019 aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt verkündete, musste sich auch seine ernannte Nachfolgerin Kelly Loeffler im November den Wählern stellen. Georgia hat außerdem ein sogenanntes »Jungle Primary« System, bei dem die Vorwahl gleichzeitig zur Wahl stattfindet. Wenn ein Kandidat die 50-Prozent-Marke überschreitet, hat er automatisch gewonnen, ansonsten treten die beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl in einer Stichwahl erneut gegeneinander an.

Perdue hatte keinen parteiinternen Vorwahlgegner, fiel aber mit der Auszählung von deutlich den Demokraten zuneigenden Briefwahlstimmen in den Tagen nach der Präsidentschaftswahl knapp unter die 50-Prozentmarke. Die 800-Millionen-Dollar schwere Unternehmerin Kelly Loeffler setzte sich in einer hart geführten Jungle-Primary-Nachwahl, in der sie mit einem Mitbewerber darum konkurrierte, wer loyaler zu Trump und rechter ist, durch.

Das demografisch durch Einwanderung aus In- und Ausland diverser werdende Georgia, das noch vor wenigen Jahren eine konservative Hochburg war, ist jetzt heiß umkämpft: Zwar gewann Joe Biden im November den Staat mit rund 11.000 Stimmen beziehungsweise 0,2 Prozentpunkten. Die Schwarze Demokraten-Gouverneurs-Kandidatin Stacy Abrams hatte den Staat 2018 noch mit rund 54.000 Stimmen knapp verloren – es gab zahlreiche Anhaltspunkte für Wählerunterdrückung durch die Republikaner. Im November erreichte der Demokrat Jon Ossoff jedoch 88.000 Stimmen weniger als sein Gegenkandidat, der Unternehmer David Perdue. In der Jungle-Primary-Nachwahl mit mehr als einem Dutzend Kandidaten erreichten alle Republikaner zusammen knapp 48.000 mehr Stimmen als alle Demokraten zusammen.

Die Wahlbeteiligung entscheidet

Weil Georgia als ehemaliger Konföderiertenstaat relativ hart entlang von Ethnizität gespalten ist – viele Weiße stimmen traditionell für die Republikaner, die Afroamerikaner im Staat für die Demokraten – und damit, wie Politikwissenschaftler es nennen, »inelastisch« ist, kommt es bei den Wahlen vor allem auf »turnout« an, also welche Seite die Wahlbeteiligung der eigenen Wähler möglichst weit hochtreibt. Stacey Abrams, die früher Fraktionsführerin der Demokraten im Staatsparlament war, und ein halbes Dutzend Schwarzer Nichtregierungsorganisationen arbeiten seit zehn Jahren daran, mit Klagen und Kampagnen Wählerunterdrückungstaktiken durch die Republikaner zu verhindern oder deren Wirkung abzuschwächen und – begünstigt durch den demografischen Wandel - neue Wähler für die Partei zu registrieren und dann auch an die Urnen zu bringen.

»Progressive Organisationen haben einen großartigen Job gemacht bei der Get-Out-The-Vote-Mobilisierung und die Zahlen des Early Votings machen klar, dass sie es auch schaffen, zu ihren eher wankelmütigen Gelegenheitswählern durchzudringen – über 100.000 Wähler, die nicht im November wählten, haben bereits abgestimmt und diese Gruppe ist überdurchschnittlich jung und nicht-weiß«, erklärt Data-For-Progress-Analyst Tagliaferro gegenüber »nd«. Diese Kombination lässt darauf schließen, dass in dieser Gruppe vermutlich viele Demokraten-Wähler sind. Seit dem 3. November sind mehrere Zehntausend Jugendliche in Georgia 18 Jahre alt geworden.

Zudem sei auch die Schwarze Wahlbeteiligung im ländlichen »Schwarzengürtel« in der Mitte von Georgia, wo sich vor dem Bürgerkrieg besonders viele Plantagen befanden, höher als bei der Präsidentschaftswahl. »Black belt turnout ist immer ein bisschen ein Problem für die Partei«, erklärt Tagliaferro. Dass es dieses Mal mehr Schwarze Wahlbegeisterung gibt als am 3. November, wo auch für viele Demokraten in anderen Bundesstaaten die Stimme für Biden eher eine Anti-Trump-Stimme war, liegt auch daran, dass mit Raphael Warnock ein Schwarzer Demokrat auf dem Wahlzettel steht.

Warnock besetzt ein geschichtsträchtiges Amt: Er ist Pastor in der Ebenezer Baptist Church in der Schwarzen-Metropole und Demokraten-Hochburg Atlanta – das Amt bekleidete einst Martin Luther King. Jon Ossoff, ehemaliger Mitarbeiter eines Kongressabeordneten, der sein Geld auch als Filmemacher verdiente, steht für die Demokraten zudem für eine symbolische Rückkehr zum Beginn des Widerstands gegen die Trump-Ära: 2017 hatte er als Demokraten-Kandidat für eine Nachwahl in einem Kongresswahlbezirk in den Vororten von Atlanta zwar verloren, aber so gut abgeschnitten wie lange kein Demokrat im Wahlkreis zuvor.

Erschöpfender Wahlkampf

Doch in diese Entschlossenheit mischt sich auch Erschöpfung. »Viele Leute, mit denen ich spreche, sind einfach nur erschöpft vom Wahlkampf, wollen das es vorbei ist. Jeden zweiten Tag klopft jemand an ihre Haustür«, erklärt Nate K. gegenüber »nd«. Der Aktivist ist Mitglied im Steering Committee der Atlanta Ortsgruppe der Democratic Socialists of America (DSA) und einer von mehreren Tausend Haustürwahlkämpfern, die derzeit im Staat unterwegs ist. Viele von ihnen bezahlt, einige arbeiten unentgeltlich. Die Argumente, die an den Haustüren am meisten überzeugen würden, seien 2000-Dollar-Direktgeldhilfen, ein höheres Arbeitslosengeld und eine günstigere Krankenversicherung. »Das bewegt die Leute«, sagt K.

Die DSA-Ortsgruppe hat ein pragmatisches Verhältnis zu den Stichwahlen, schreibt er in einem Statement. »Um Coronahilfen für die Arbeiterklasse zu erreichen, muss die Macht der Milliardärsklasse gebrochen werden«, deswegen »empfehle« man gegen »alle republikanischen Kandidaten zu stimmen, damit Fortschritt möglich werde«.

In der Vergangenheit hatten die Demokraten im Staat oft parallel zu Präsidentschaftswahlen eine bessere Wahlbeteiligung erreicht, waren in Stichwahlen dann aber abgerutscht. Die überwiegend älteren und weißen Republikaner-Unterstützer zeigten sich als zuverlässigere Wähler. Dass es dieses Mal anders ist, darauf deuten die Zahlen vom zwei Wochen Early Voting seit Mitte Dezember hin. Beim »Frühabstimmen« haben bereits ähnlich viele Wähler wie bei der Präsidentschaftswahl eine Stimme abgegeben – die Demokraten haben sich dabei einen noch größeren Vorteil erarbeitet als noch im November. Insgesamt über drei Millionen haben bereits vor der Wahl abgestimmt – viel mehr als bei vergangenen Stichwahlen, aber weniger als im November. Doch dieses Mal lagen auch die Weihnachtsfeiertage dazwischen.

Wie reagiert die Trump-Basis?

Der Demokraten-Vorteil aus dem Frühwählen könnte durch eine hohe Wahlbeteiligung der Republikaner am Wahltag selber wie schon im November - damals im Fall Biden beinahe - zunichte gemacht werden. Trump propagiert seit Monaten, dass Briefwahl Betrug sei und motiviert die Anhänger seiner Partei dazu, am Wahltag abzustimmen.

Seit der Novemberwahl wiederum behauptet Trump, auch in Georgia habe es massiven Wahlbetrug gegeben. Einige seiner ultrarechten Anhänger stürzen sich deswegen immer weiter in Verschwörungstheorien und haben besonders auf dem von Rechten dominierten sozialen Netzwerk Parler zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Sie wollen so die Republikaner bestrafen, sie sehen Teile der Partei als nicht ausreichend loyal gegenüber Trump beziehungsweise als nicht aggressiv genug im Vorgehen gegen Bidens Wahlsieg. Sollten nur einige wenige Tausend Hardcore-Trump-Anhänger die Wahl aussitzen und sollte der Wahlenthusiasmus der Basis am Dienstag nur ein wenig gedämpft sein, könnte dies den Sieg kosten.

Moderate Wähler in der Mitte könnten ebenfalls entscheidend sein

Doch auch, wenn ausreichend viele der rund 40.000 bis 75.000 »split-ticket«-voter in der politischen Mitte, die im November zwar für Biden stimmten, aber nicht für Warnock oder Ossoff, ihre Stimme ändern, könnte dies den Demokraten entscheidende Stimmen bringen.

Dazu beitragen könnte die am Sonntag bekannt gewordene Aufnahme eines Telefongesprächs zwischen Donald Trump und dem republikanischen Wahlleiter des Bundesstaates nach der Novemberwahl, in dem der US-Präsident offen suggeriert hatte, der Offizielle solle das Wahlergebnis nachträglich zu seinen Gunsten »anpassen«.

Außerdem haben in den letzten Tagen viele Republikaner-Abgeordnete angekündigt, am 6. Januar gegen eine Wahl von Joe Biden durch das electoral college vorzugehen. Moderate Wähler in der Mitte könnte die Medienberichterstattung über all das daran erinnern, dass die Ära Trump noch nicht Recht vorbei ist.

Für Loeffler und Perdue sei es zum Problem geworden, dass sie »den Präsident nicht zwingen können, sich zu benehmen. Doch sie haben auch schlecht auf die Insider-Trading-Vorwürfe reagiert«, sagt DFP-Analyst Tagliaferro. Warnock und Ossoff stellen ihre republikanischen Widersacher als herzlose Ultrareiche dar, seit bekannt geworden ist, dass Loeffler und Perdue Anfang letzten Jahres als Senatoren ein geheimes Senatsbriefing zu den Gefahren des Coronavirus erhielten, danach im großen Stil Aktien verkauften und porträtieren sie als entrückte Politiker, die sich in ihren Villen vor den an der Coronakrise leidenden Durchschnittsamerikanern verschanzten.

Demokraten setzen auf populäre Themen

Demokraten wiederum haben einen »außergewöhnlich guten« Wahlkampf gemacht, sagt Tagliaferro. Warnock und Ossoff hätten es geschafft, ihr »Messaging« und ihr Programm so anzupassen, dass weder Wähler des moderaten Flügels noch die Parteilinke verärgert werden, »man aber auch gleichzeitig swing voter anspricht«. Neben Coronahilfen-Direktgeldzahlungen sei das die Legalisierung von Marihuana, aber »besonders ein 15-Dollar-Mindestlohn. Man fokussiert sich auf Dinge, bei denen die gesamte Partei geeint ist«, so der DFP-Analyst.

Die DSA-Aktivisten machen dagegen klar, dass sie bei einem Wahlsieg von Ossoff und Warnock sofort gegen die neuen »neoliberalen kapitalistischen Senatoren« mobil machen wollen. »Für uns ist das kein Persönlichkeits-Contest, wir wollen die beiden nicht fälschlicherweise als besonders gut darstellen und im Haustürwahlkampf keine falschen Hoffnungen aufbauen«, sagt DSA-Aktivist Nate K. »Wenn sie gewinnen, müssen wir sie dazu pushen das Richtige zu tun«. Er meint damit die 2000-Dollar-Direktgeldhilfen, aber auch die Umsetzung eines Green New Deals zur Bekämpfung der Klimakrise oder die Einführung der staatlichen Krankenversicherung »Medicare For All«. Zu den letzten beiden Politikprojekten hat sich Ossoff bereits ablehnend geäußert.

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