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Weitere Verschärfungen - doch nicht alle ziehen mit
Einschränkung des Bewegungsradius in Hotspots / Unterschiede im Umgang mit Schulen
Berlin. Auf die Menschen kommen in der Corona-Pandemie weitere Einschränkungen zu. Ziel ist es, die Zahl der Infektionen mit dem Virus zu senken. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Regierungschefs der Länder einigten sich am Dienstag auf eine Verlängerung der ursprünglich bis zum 10. Januar vereinbarten Lockdown-Regeln bis zum Monatsende. Zudem sollen künftig Treffen nur noch mit einer Person, die nicht zum eigenen Haushalt gehört, möglich sein. Die Länder sollen für Kreise, in denen sich binnen sieben Tagen mehr als 200 Menschen pro 100.000 Einwohner neu infiziert haben, den Bewegungsradius der Bürger auf 15 Kilometer um den Wohnort begrenzen.
Wie das Robert Koch-Institut (RKI) am Mittwochmorgen bekanntgab, haben die Gesundheitsämter 21.237 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages gemeldet. Außerdem wurden 1019 neue Todesfälle im Zusammenhang mit dem Virus innerhalb von 24 Stunden verzeichnet. Eine Interpretation der Daten bleibt schwierig, weil um Weihnachten und den Jahreswechsel Corona-Fälle laut RKI verzögert entdeckt, erfasst und übermittelt wurden. Es wurde deutlich weniger getestet. Das RKI geht davon aus, dass die Daten frühestens Ende nächster Woche/Anfang übernächster Woche wieder belastbar sind, wie es auf Anfrage hieß.
Einschränkung des Bewegungsradius in Hotspots
Kurz nach den Beschlüssen vom Dienstag zeichnete sich bereits ab, dass einige Bundesländer davon wohl abweichen werden. So will Niedersachsen die Beschränkung der Bewegungsfreiheit in Hotspots nicht ohne Weiteres umsetzen. Nötig sei eine gesonderte Begründung zur Verhältnismäßigkeit, wie sie das Oberverwaltungsgericht bereits bei anderen Einschränkungen angemahnt hat, sagte Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). »Das ist für uns Teil des Prüfprogramms, ob und wann die Regelung zur Anwendung kommt, am liebsten gar nicht.«
In Deutschland gibt es einen eingeschränkten Bewegungsradius bereits in Sachsen, wo die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen drei Monaten stark angestiegen war. Hier dürfen sich die Bürger maximal 15 Kilometer von ihrem Wohnort entfernen, etwa um Sport zu treiben oder zum Einkauf. Ähnlich betroffen wie Sachsen ist auch Thüringen von der Pandemie. Doch dort gibt es zunächst keine Verpflichtung für die Bürger, ihren Bewegungsradius auf 15 Kilometer um ihren Wohnort einzuschränken, sondern nur eine entsprechende Empfehlung.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund zweifelt an der Umsetzbarkeit des eingeschränkten Bewegungsradius. »Klar ist, dass in Gebieten mit sehr hohen Inzidenzen zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden müssen«, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der »Rheinischen Post« (Mittwoch). Ein solch eingeschränkter Bewegungsradius sei allerdings kaum kontrollierbar, und es sei fraglich, ob er letztlich durch die vielen Ausnahmen Wirkung entfalten werde, sagte Landsberg.
Die Unterschiede zwischen den Bundesländern bei der Zahl der binnen sieben Tagen an die Gesundheitsämter gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner (Sieben-Tage-Inzidenz) sind enorm. Bundesweit lag diese Mittwochmorgen bei 127,3. Die höchsten Inzidenzen hatten am Dienstag Sachsen mit 262,1 und Thüringen mit 244,6. Den niedrigsten Wert hatte Bremen mit 73,7. Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 1.808.647 nachgewiesene Infektionen (Stand: 06.01., 00.00 Uhr). Die Gesamtzahl der Menschen, die an oder unter Beteiligung einer nachgewiesenen Infektion mit Sars-CoV-2 gestorben sind, stieg auf 36 537. Die Zahl der Genesenen gab das RKI mit etwa 1.451.000 an.
Unterschiede im Umgang mit Schulen
Auch im Umgang mit den Schulen zeichnet sich kein einheitliches Bild der Länder ab: Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann will Grundschulen und Kitas im Land vom 18. Januar an unter Umständen wieder öffnen. Für Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen gebe es entsprechend der Vereinbarung von Bund und Ländern bis Ende Januar keinen Präsenzunterricht. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein will den Lockdown an Schulen und Kitas bis Ende Januar verlängern. »Das heißt: Präsenzunterricht wird in den Schulen auch bis Ende Januar nicht stattfinden können«, sagte Regierungschef Daniel Günther (CDU). Möglichkeiten für Unterricht in den Schulen soll es im Norden vorerst nur für Abschlussklassen geben.
Thüringen und Sachsen werden wegen der Corona-Pandemie die Winterferien vorziehen - und in Sachsen werden sie auf eine Woche gekürzt. Das teilten Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) mit.
Lob von Ärztevertretern
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, bezeichnete die Einschränkung des Bewegungsradius an Orten mit vielen Corona-Neuinfektionen als »sinnvolle Vorsichtsmaßnahme«. »Wir müssen die Infektionsdynamik verringern, um unser Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen«, sagte Reinhardt der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Die Versorgung in den deutschen Kliniken und Praxen müsse voll aufrechterhalten werden. Das sei nicht nur für die vielen schwer an Covid-19 erkrankten Menschen essenziell - »sondern auch für alle anderen behandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten in Deutschland«, stellte Reinhardt klar.
Auch die Ärztegewerkschaft Marburger Bund begrüßte die verschärften Corona-Beschlüsse: »Es ist richtig, die Bremse weiter anzuziehen. Der Bund-Länder-Beschluss ist deshalb nur konsequent«, sagte die Vorsitzende, Susanne Johna, der »Rheinischen Post« (Mittwoch). Das Klinikpersonal sei seit Wochen im absoluten Dauerstress.
Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zu den Beschlüssen: »Ich bin sehr froh über diese Entscheidung. Die Kliniken sind wirklich voll und die Intensivstationen auch.« Aktuell seien mehr als 22.000 Intensivbetten in den Kliniken belegt, mehr als 80 Prozent der Kapazitäten.
Kritik an Impfstrategie
Unterdessen will die Bundesregierung versuchen, die Produktion von Corona-Impfstoffen hochzufahren. Dazu berät Kanzlerin Merkel am Mittwoch mit den zuständigen Ministern. Nach heftiger öffentlicher Debatte über den Impfstart hatte unter anderem der Koalitionspartner SPD Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angegriffen.
Der Fraktionsvize der Liberalen im Bundestag, Michael Theurer brachte einen Untersuchungsausschuss ins Spiel. »Die ausreichende Versorgung mit Impfstoffen rettet Menschenleben. Jeder Tag, an dem weiterhin so schleppend geimpft wird, gefährdet Menschenleben«, sagte er. Die Fragen müssten im Bundestag beantwortet werden, »gegebenenfalls in Form eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses«.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte dem Nachrichtenportal t-online, die Linke werde eine Sondersitzung des Bundestags beantragen. Er sprach von einem »Debakel« bei den Impfungen und kritisierte insbesondere, dass der Bundestag in die jüngsten Beschlüsse zur Corona-Pandemie nicht einbezogen worden sei. »Das ist ein undemokratisches Manöver der Kanzlerin.«
Nach dem Biontech-Serum steht der zweite Impfstoff in der EU vor dem Einsatz. Die Europäische Arzneimittel-Behörde EMA wird an diesem Mittwoch voraussichtlich die Zulassung des Covid-Impfstoffes des US-Herstellers Moderna empfehlen. Dann muss noch die EU-Kommission zustimmen; das gilt als Formsache.
Debatte über die Zielmarke
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte im ZDF-»heute journal«, die Marke von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche sei das Minimum, das erreicht werden müsse. Das Gute sei, dass man dies nun auf zwei Wegen erreichen könne, mit den beschlossenen Maßnahmen und durch aktives Impfen. »Das gibt uns natürlich schon mehr Sicherheit jetzt auch für das Frühjahr.«
Der Virologe Klaus Stöhr bezeichnete das Inzidenzziel von 50 als »illusorisch«. Das Ziel sei tief gesetzt, sagte Stöhr in den ARD-»Tagesthemen«. Ein Blick in Nachbarländern zeige, dass man mit harten Lockdowns viel erreicht habe, aber kaum unter eine Inzidenz von 100 gekommen sei. dpa/nd
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