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Zurück in die Zukunft
Klimageschichte vom Meeresboden – vor mehr als sechs Millionen Jahren war es so warm wie heute.
Klimaprognosen gibt es wie Sand am Meer. Wie wär’s, wenn man einmal auf den Sand im Meer guckt, um herauszufinden, wie es in der Vergangenheit aussah? Wann und wie unsere Mutter Erde geschwitzt oder gefroren hat? Im Epizentrum des heutigen Klimawandels - der Arktis - ergeben sich besonders aufschlussreiche Einblicke.
Wir haben die Bohrkerne aus dem Inlandeis von Grönland und vom antarktischen Kontinent. Geochemiker vieler Nationen konnten daran die Veränderungen von Klima und Umwelt detailliert etwa 130 000 Jahre (Grönland) bis 800 000 Jahre (Antarktis) zurückverfolgen. Aber über die Wechselwirkungen zwischen Abläufen an Land, im Ozean und in der Atmosphäre sagen Eiskerne allein nichts. Hier werden weitere Klimaarchive benötigt, wie sie durch Sedimentkerne aus dem Arktischen Ozean zur Verfügung stehen.
Die kürzlich zu Ende gegangene einjährige Expedition Mosaic der »Polarstern« und ihres Forschungscamps auf dem Eis hat die Wechselwirkungen zwischen Ozean, Meereis und Atmosphäre untersucht. Wer die Fernsehberichte verfolgt hat, konnte in einer Sequenz sehen, dass mit dem Eis allerlei Schmutz (schwarzes Eis!) von den Kontinenten herangetragen wird. Diese Mitbringsel sinken irgendwann ins Wasser und sammeln sich als Sedimente am Meeresboden. Sie speichern - Schicht für Schicht - jene Klimabedingungen, die an der Oberfläche geherrscht haben. Damit kommt der Sedimentforschung eine Schlüsselfunktion zu.
»Wir müssen in der Geschichte lesen, um die Erde zu verstehen«, meint der Geowissenschaftler Rüdiger Stein vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven, der an unzähligen Arktis-Expeditionen teilgenommen hat. »Auch um zu verstehen, was uns in Zukunft erwarten könnte.« Doch wie den Schatz erschließen? Schließlich ist die »Polarstern« kein Bohrschiff. Um wenigstens an die oberen Schichten heranzukommen, benutzten die Wissenschaftler sogenannte Schwerelote oder das größere Kastenlot. Ein Name mit Geschichte: Als es auf Schiffen noch kein Echolot gab, bestimmte der Lotgast die Wassertiefe mit einem Seil, an dem ein Gewicht hing. Und um sicher zu gehen, dass es den Meeresboden erreicht hat, wurde an das Gewicht ein kurzes Rohr montiert, das ein bisschen Dreck aufnehmen konnte. Daraus haben findige Ingenieure dann das Schwerelot und eben das Kastenlot entwickelt.
Das Kastenlot wäre allerdings zu groß und zu schwer für den Transport im Ganzen. Und so mussten die Geologen im Schneetreiben auf dem Außendeck die Blechsegmente zusammenschrauben. Am Ende liegt ein säulenartiger Hohlkörper neben dem Schanzkleid. Die Stirnfläche ist etwas kleiner als ein genormtes Schachbrett, dafür aber elf Meter lang. Obenauf die Bleigewichte, die allein schon drei Tonnen wiegen, unten der »Core-Catcher« (Kernfänger), der sich automatisch schließt, damit die Sedimentprobe beim Hochziehen nicht wieder herausfällt. Ein kompliziertes Kranmanöver bringt den Koloss über Bord und in die Senkrechte. Funkkontakt zur Brücke: »Kastenlot geht zu Wasser.«
3650 Meter tief war das Amundsen-Meer nördlich von Sibirien an einem Haltepunkt der »Polarstern«-Expedition im Jahr 2018. Es dauert fast drei Stunden, bis das Kastenlot wieder an Deck ist. Eine Hälfte wird ins Nasslabor bugsiert, von seiner Hülle befreit, mit einer Schneidsehne geglättet, und nun liegt ein vertikaler Schnitt des Meeresbodens auf den Holzböcken. Großer Applaus, die Kameras blitzen - selten wurde ein so schöner Kastenkern so hoch im Norden unter Eis gezogen.
Auf der Sedimentfläche wechseln hell- und dunkelbraune Bereiche, dazwischen gelber Sand, dann wird es stärker olivfarben. Eine Schicht zieht alle Blicke auf sich: pinkfarben. »Dolomit-reiches Sediment, das kommt wahrscheinlich von den arktischen Inseln Nordkanadas«, sagt Rüdiger Stein. »Und hier, siehst du, die grauen Lagen? Als sich die auf dem Meeresboden niedersetzten, war es kalt. Oben das Dunkelbraune: die heutige Warmzeit. Darunter gröbere, mehr gräuliche Horizonte, vielleicht die Weichsel-Kaltzeit? Das Dunkelbraune da unten möglicherweise die Eem-Warmzeit, unterlagert von dunkelgrauen Sedimenten, die der Saale-Eiszeit entsprechen könnten. Alles drin. Wenn wir Glück haben, sind die tiefen Schichten sehr alt«, hofft Stein. »Vielleicht 500 000 Jahre vor heute. Über diesen Zeitraum wissen wir aus der Arktis bisher wenig. Das müssen wir uns im Institut genauer ansehen.«
Hunderte Proben werden genommen, viele an Bord schon analysiert, Fossilien bestimmt, Segmente herausgeschnitten und nach allen möglichen Komponenten durchmessen … Der größte Teil dieser Schätze wird allerdings verpackt und kühl gelagert, um später in den Heimatlabors untersucht zu werden.
Die Aufarbeitung eines Sedimentkerns vom Westhang des Lomonossow-Rückens, mit einem Schwerelot in rund 1500 Metern Wassertiefe gewonnen, hat fast zwei Jahre gedauert. Das Ergebnis war spektakulär. Der unterste Meter der Sedimentabfolge wies ein Alter zwischen sechs und zehn Millionen Jahren auf. Zum ersten Mal war an dieser Stelle ein Meeressediment aus dem Erdzeitalter des Miozäns zutage gefördert worden. Unter dem Mikroskop fanden die Wissenschaftler ein Mikrofossil, genauer: eine Unterart, von der man aus Untersuchungen von Sedimentkernen aus dem Nordatlantik wusste, dass sie nur in dem genannten Zeitfenster existierte. Nachdem das Alter feststand, versuchten die Spezialisten unterschiedlicher Disziplinen am AWI zu ergründen, wie die Klimabedingungen damals ausgesehen haben könnten. Für die Geologen um Rüdiger Stein waren zwei Gruppen von organisch-geochemischen Komponenten (sogenannte Biomarker) maßgebend: Im Meereis leben Kieselalgen, die charakteristische Biomarker produzieren, welche nach dem Absterben der Algen zu Boden sinken und im Sediment erhalten bleiben. Andere Kiesel- und auch Kalkalgen, die nur im offenen Wasser leben, hinterlassen ebenfalls typische Spuren im Sediment. Wenn man nun das Vorkommen beider im Sediment gefundenen Biomarker vergleicht, kann man schlussfolgern, ob sich das Eis mehr ausgedehnt hat und dichter geworden ist oder ob es zurückgewichen ist.
Andere im freien Wasser lebende Kalkalgen wiederum, Coccolithoforiden (jene Art, welche u. a. die Rügener Kreidefelsen hinterlassen hat), lassen genauere Aussagen über die damalige Wassertemperatur zu. Diese Algen produzieren sogenannte Alkenone - lange Kohlenstoff-Wasserstoff-Ketten mit zwei bis vier Doppelbindungen und einem Sauerstoffatom. Der Clou an der Sache: Laborexperimente aus den 80er Jahren hatten gezeigt, dass die Anzahl der Doppelbindungen von der Wassertemperatur abhängt, in der die Algen gelebt haben. Je wärmer das Wasser, desto dominanter wird das Molekül mit zwei Doppelbindungen. Die gaschromatographische Analyse der miozänen Sedimentproben ergab, dass vor sechs bis zehn Millionen Jahren das Oberflächenwasser um den Nordpol zwischen vier und sieben Grad Celsius warm war; damals konnte dort also kein Eis vorhanden gewesen sein.
Nun wurden aber trotzdem von Eisalgen produzierte Biomarker gefunden! Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn es gab damals deutliche jahreszeitliche Unterschiede. Im späten Miozän war der Arktische Ozean im Sommer eisfrei, so konnten die Kalkalgen wachsen und sich vermehren, während im Winter, während der langen Polarnacht, eine ausgedehnte Meereisdecke existiert haben muss. Bisher glaubten viele Wissenschaftler noch, dass die Nordpolarregion über erdgeschichtlich lange Zeiten mehr oder weniger durchgängig eisbedeckt gewesen sein muss.
Die Klimamodellierer des AWI haben die aktuell gewonnenen Daten in ihre Modelle eingegeben und mit unterschiedlichen Ausgangsgrößen gerechnet. Resultat: Die auf diese Weise rekonstruierten Umweltbedingungen stellen sich ein, wenn die Atmosphäre 450 ppm (Parts per million) Kohlenstoffdioxid enthält (d. h. 450 Mikroliter CO2 befinden sich in einem Liter Luft). Dann, so zeigen die Simulationen, ist die Polkappe am Ende des Winters, im März, gänzlich mit Eis bedeckt, im Juni etwa zur Hälfte und im September kräuseln sich Wellen im Sonnenlicht.
Zurzeit liegt der atmosphärische CO2-Wert bei etwa 410 ppm. Wenn die Emission von Kohlenstoffdioxid auf dem gegenwärtigen Niveau bleibt oder gar noch zunimmt, wird der Wert von 450 ppm in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten überschritten. Damit würden wir spätestens im Jahr 2050 Umweltbedingungen mit einem eisfreien Nordpol im Sommer erreichen, wie die AWI-Wissenschaftler sie für den Zeitraum von sechs bis zehn Millionen Jahren vor heute ermittelt haben. »Noch können wir diesem extremen Klimawandel mit all seinen Konsequenzen gegensteuern«, meint Rüdiger Stein. »Durch eine drastische globale Reduzierung des CO2-Ausstoßes - aber es ist hier bereits eine Minute vor Zwölf!«
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