Rechter Anschlag bleibt unaufgeklärt

Bundesgerichtshof bestätigt Freispruch für Angeklagten. Im Juli 2000 waren bei Attentat in Düsseldorf zehn Menschen verletzt worden

Wer am 27. Juli 2000 in Düsseldorf den Bombenanschlag auf junge Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion verübte, wird wohl im Dunkeln bleiben. Es ist fraglich, ob der Attentäter jemals gefunden und zur Rechenschaft gezogen wird. Denn der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe bestätigte am Donnerstag den Freispruch für einen tatverdächtigen Neonazi durch das Düsseldorfer Landgericht vom 31. Juli 2018. Es hätten eindeutige Beweise gefehlt, teilten die Karlsruher Richter mit (Az. 3 StR 124/20).

Bei dem mutmaßlich rassistisch und antisemitisch motivierten Anschlag waren auf einer Fußgängerbrücke am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn zehn Personen aus Russland, der Ukraine und Aserbaidschan teils lebensgefährlich verletzt worden, vier von ihnen waren jüdischen Glaubens. Eine im sechsten Monat schwangere Frau verlor ihr Kind.

Dass es 18 Jahre nach der Tat überhaupt noch zum Prozess kam, war einer Zeugenaussage zu verdanken. Denn Ralf S., der unmittelbar nach dem Anschlag Hauptverdächtiger gewesen war, hatte, als er wegen eines anderen Delikts eine Haftstrafe verbüßte, einem Zellengenossen gegenüber mit der Tat geprahlt. Der Mithäftling teilte dies Polizisten mit, woraufhin die Ermittlungen gegen S. 2014 wieder aufgenommen wurden. 2017 wurde er verhaftet.

Der heute 54-jährige Ralf S. betrieb damals gegenüber der Sprachschule, die die Anschlagsopfer besuchten, einen Militarialaden und wohnte nur 500 Meter vom Tatort entfernt. Deshalb war er nach dem Attentat schnell in Verdacht geraten. Doch 2002 hatte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen S. eingestellt.

Nach Wiederaufnahme hatte das Düsseldorfer Landgericht 2018 auf Freispruch entschieden, weil es aus seiner Sicht keine eindeutigen Spuren oder Beweise dafür gab, dass S. der Täter war. Befragte Zeugen hatten sich nach der langen Zeit kaum erinnern können oder sich in Widersprüche verwickelt. Nach Einschätzung des Vorsitzenden BGH-Richters Jürgen Schäfer war der Freispruch durch die Vorinstanz auf rund 100 Seiten rechtsfehlerfrei begründet. Die Beweiswürdigung sei grundsätzlich Sache des Tatrichters und vom Revisionsgericht im Ergebnis hinzunehmen, und zwar selbst in Fällen, in denen ein anderer Schluss nähergelegen hätte. Damit steht Ralf S. nun sogar eine Entschädigung zu.

Gegen das Landgerichtsurteil hatte die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Doch bereits bei der Verhandlung darüber Ende November in Karlsruhe hatten die Bundesanwaltschaft und die Verteidiger von Ralf S. dafür plädiert, den Freispruch zu bestätigen. Die Bundesanwaltschaft tritt am BGH anstelle der Staatsanwaltschaft auf und muss sich der Revision nicht anschließen. Richter Schäfer betonte am Donnerstag, unabhängig vom Ausgang sei in der Verhandlung noch einmal deutlich geworden, wie groß das Leid der Opfer sei. Ihr Leben sei von einer Sekunde auf die andere nicht mehr dasselbe gewesen.

In dem im Januar 2018 eröffneten Landgerichtsprozess wegen versuchten Mordes in zwölf Fällen hatte Staatsanwalt Ralf Herrenbrück hart um eine Verurteilung von S. gekämpft, zahllose Beweisanträge gestellt und viele Zeugen vorgeladen.

So wurde noch ein Rechtsradikaler vernommen, der an einer verbalen Auseinandersetzung von S. mit Sprachkursteilnehmern vor der Lehreinrichtung verwickelt gewesen sein soll. Zudem wurden Verwandte eines verschwundenen Schlüsselzeugen angehört. Dieser soll mit Ralf S. befreundet gewesen sein und große Mengen des Sprengstoffs TNT besessen haben, der in der Bombe zum Einsatz kam. Zudem konnte die Staatsanwaltschaft belegen, dass der Ex-Soldat S. fundierte Kenntnisse über den Umgang mit Granaten und Panzerfäusten hatte.

Der frühere Zellengenosse von S. widerrief während des Prozesses seine Aussage, der zufolge der Angeklagte die Tat ihm gegenüber zugegeben hatte. Während des Verfahrens verweigerte er jede weitere Einlassung. Das Gericht entließ ihn nach nur elf Tagen aus der Beugehaft, Herrenbrück protestierte dagegen scharf.

Der Staatsanwalt forderte eine lebenslange Freiheitsstrafe für S. Er zeigte sich überzeugt, dass dieser Täterwissen offenbart hatte. So habe er bereits eine halbe Stunde nach dem Anschlag in einem Telefonat bekundet, er fürchte, verhaftet zu werden. Zu diesem Zeitpunkt sei nicht einmal klar gewesen, ob es sich um ein Verbrechen handelte.

Antifaschisten hatten im Laufe der vielen Jahre nach dem Anschlag immer wieder auf eklatante Ermittlungspannen hingewiesen. Bereits einen Tag danach hatte etwa der örtliche Koordinierungskreis antifaschistischer Gruppen auf Ralf S. aufmerksam gemacht. Erst fünf Tage später gab es eine Hausdurchsuchung bei ihm. Belastendes Material wurde dabei nicht gefunden. Erst Monate später fanden Mitarbeiter einer Umzugsfirma in seinem Keller eine Handgranate und Propagandamaterial. S. selbst hatte zum Prozessauftakt erzählt, er sei kurz nach dem Anschlag von einem Polizisten gewarnt worden. »Da rufen jede Menge Leute an und beschuldigen dich«, soll dieser ihm am Telefon gesagt haben. Zuvor waren viele Hinweise auf S. bei der Polizei eingegangen.

Bereits das Urteil 2018 hatte bei Prozessbeobachtern für Entsetzen gesorgt. Auch die Bestätigung der damaligen Entscheidung durch den BGH löste Empörung aus. Dominik Schumacher von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Düsseldorf (MBR), erklärte, damit bleibe dieser Akt des Rechtsterrors »ungesühnt und unaufgeklärt«. Die MBR hat den gesamten Prozess 2018 verfolgt und dokumentiert. Dem »nd« sagte Schumacher, das Landgerichtsurteil sei für ihn seinerzeit angesichts von »tonnenweise« Beweisen und Indizien »nicht nachvollziehbar« gewesen. Er unterstütze die Forderung vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen nach einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, um Ermittlungspannen, die Bagatellisierung der Neonaziszene durch die Polizei und die fragwürdige Rolle des Verfassungsschutzes bei den Ermittlungen zu klären, so Schumacher. Ein solcher sei jetzt »eine der wenigen verbliebenen rechtsstaatlichen Möglichkeiten, hier Licht ins Dunkel zu bringen«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.