»Ich habe mich noch nie handwerklich wiederholt«

So verschieden, wie die Menschen sind, so unterschiedlich gestaltet Michael Spengler ihre Grabmale. Je nach Charakter des Verstorbenen sucht er den passenden Stein

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 7 Min.
Foto: nd/Frank Schirrmeister
Foto: nd/Frank Schirrmeister

Neben den Steinen, die Sie gerade für neue »denkwerke« bearbeiten, wie Sie diese nennen, steht eine steinerne Platte mit der eingravierten Aufschrift »Gästeliste«. Was hat es damit auf sich?

Im Interview

Michael Spengler, gelernter Steinmetz und studierter Bildhauer, restaurierte in den 90er Jahren unter anderem das Brandenburger Tor. Der 57-Jährige betrachtet Gestein als etwas in Jahrmillionen Gewordenes. Aus dem Sedimentgestein des Meeres, aus Findlingen, die die Eiszeit hierherbrachte, und aus der erkalteten Lava aus dem Erdinneren erschafft er in seiner Werkstatt, die sich auf dem ehemaligen Todesstreifen der einstigen Berliner Mauer befindet, ganz individuelle Grabsteine. Spengler kennt sich mit dem Tod aus, ein Corona-Profiteur ist er nicht.
 

Ich feiere einmal im Jahr ein Werkstattfest und finde es schön, wenn die Leute auf dieser Gästeliste ihre Initialen hinterlassen. Das braucht zwar ein bisschen länger, aber wenn man seinen Wein danebenstehen hat, geht das auch ganz gut für ungeübte Hände. Für mich ist das Material - und die Zeit, die Stein mit sich bringt - ohnehin etwas sehr Besonderes. Ich bin ein eher ungeduldiger Mensch, und der Umgang mit Stein hat mir geholfen, diese Ungeduld etwas in den Griff zu bekommen. Wenn man auf den Stein ungeduldig zugeht, kippt er um und fällt einem aufs Bein. Aber wenn man ihm mit Zeit begegnet, kann etwas Gutes entstehen. Mich jedenfalls hat das ruhiger und ausgeglichener gemacht.

Welches Verhältnis haben Sie zum Material Stein?

Ich habe Respekt vor dem Alter und der Transformation, die Stein oft durchgemacht hat. Viele Steine sind ja metamorph, waren ursprünglich etwas anderes. Kalkstein kommt aus dem Meer, besteht aus ehemaligen Lebewesen wie Donnerkeilen und Trilobiten.

Donnerkeile sind urzeitliche Tintenfische mit zehn Fangarmen, Trilobiten vielfüßige Meeresbodenbewohner mit ausgeprägtem Körperpanzer.

Genau. Deren Überreste blieben zurück, als das Meer verdunstete und die gesamte Masse durch Druck und Hitze zu Stein wurde. Ein Kalkstein aus dem Jura ist 200 Millionen Jahre alt - da ist viel passiert, das sind Zeiträume, die wir nicht durchschreiten, ja nicht einmal erahnen können. Oder Sandsteine - eine durch Frost abgesprengte Bergspitze, die in einen Bach fiel und bis zur Meeresmündung gespült wurde. Sie wurde auf dem Weg dorthin zermahlen. Der einstmals große Felsen wurde zu Sandkörnern und erfuhr durch Druck und Hitze eine Transformation. Das ist auch ein gutes Bild für uns Menschen, denn auch wir verändern uns.

Eine verblüffende Ähnlichkeit also, obwohl Steine so statisch wirken und wir Menschen uns ja von einem Augenblick zum anderen verändern können?

Genau. Die Zeitvorstellungen sind andere, aber es gibt viele Parallelen. Ein Findling zum Beispiel, der kam mit der Eiszeit hier an. Er ist außen ramponiert wie wir Menschen manchmal auch, wenn uns das Schicksal durch die Welt treibt. Von außen wirkt er dennoch sehr fest. Wenn ich ihn aber aufsprenge, sehe ich eine frische, leuchtende Bruchfläche in ihm. Und ich denke, dass es auch beim Menschen so einen Kern, eine Essenz, etwas Unverrückbares gibt. An diese Essenz will ich mit meinen Arbeiten, den »denkwerken«, auch herankommen.

Sie nennen die Grabmale, die Sie herstellen, »denkwerke«. Wie sind Sie auf den Begriff gekommen?

Das Wort Grabstein war mir zu einschränkend. Ich verwende unterschiedliche Materialien, neben Stein auch Holz und Metall. Grabmal oder Grabzeichen wäre möglich gewesen. Aber bei mir ist noch ein intellektueller Prozess vorgelagert.

Der wäre?

Es ist das Erzählen über den Menschen, der gestorben ist, sein Leben, seine Vielschichtigkeit. Das ist psychoanalytische Arbeit, die die Hinterbliebenen leisten, hat aber auch philosophische Ansätze, weil der Tod eines Menschen die Sinnfrage berührt. Denken ist also wichtig. Am Ende entsteht ein Werk. Es soll an den Menschen, der verstorben ist, erinnern. Und es soll den Tod begreifbarer machen. Ich bezeichne die Grabmale aus meiner Werkstatt gern als »haptische Krücken«, die den Tod fassbar, ja anfassbar machen sollen.

Wie bringen Sie die Angehörigen dazu, Ihnen Dinge vom Verstorbenen zu erzählen, aus denen dessen Essenz ersichtlich wird?

Es findet schon eine Art Vorauswahl statt, wie man mich überhaupt findet. Das geschieht über Empfehlungen. Manch einer hat schon eine Arbeit von mir gesehen. Ich sage anfangs, dass man für das erste Gespräch zwei Stunden mitbringen und bereit sein sollte, etwas zu erzählen. Das machen alle gern. Es ist aufreibend, es wird viel geweint bei mir, aber ich habe die Erfahrung gemacht, wenn die Leute etwas erzählen und wir langsam zu etwas Konstruktivem kommen, dass ihnen das auch guttut.

Nach welchen Kriterien wählen Sie das Material für ein »denkwerk« aus?

Die Auswahl des Materials steht noch vor der Entwicklung der Form. Ein Kalkstein, der aus dem Meer kommt, ist für Menschen mit einer Affinität zum Flüssigen passend. Für Menschen, die Brüche in ihrem Leben zu verzeichnen hatten, wäre ein Sandstein oder ein anderes metamorphes Gestein geeignet. Für andere, die ihr ganzes Leben lang eine Stringenz und Stabilität in sich hatten, käme ein Gestein aus dem Erdmantel, ein Basalt etwa, infrage.

Wie viele »denkwerke« haben Sie bereits geschaffen?

In den vergangenen 20 Jahren etwa 250.

Werden Sie da zum Routinier des Todes?

Nein, das kann ich nicht sagen. Mich rühren die Geschichten, die ich höre, immer wieder neu an - und die Menschen sind ja auch so unterschiedlich. Ich habe mich noch nie handwerklich wiederholt.

Wie gut haben Sie mittlerweile den Tod kennengelernt?

Ich gehe zwar viel mit dem Tod um, aber ich fürchte, wenn ich an die Reihe komme, werden mir all die Überlegungen nicht viel nützen. Ich weiß, ich werde nicht gerne sterben. Ich habe vor dem Sterben Angst, vor dem Tod vielleicht nicht. Den Tod finde ich eher spannend.

Inwiefern spannend?

Ich habe große Schwierigkeiten, mir das Nichts vorzustellen. Und ich denke, dass mit dem Tod etwas passieren könnte, aber ich weiß nicht, was. Und das finde ich spannend.

Ihre Werkstatt befindet sich an einem ganz besonderen Ort: Rechts ist der Friedhof, gegenüber der Stadtgarten »im Niemandsland«, links verlief einst die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Beeinflussen die Mauertoten Ihre Arbeit?

Die Mauer zum Friedhof ist sogar die alte Hinterlandmauer der Grenzanlagen. Philosophisch betrachtet wurde mit Mauer und Todesstreifen etwas gebaut, das jede Veränderung verhindern sollte. Der Streifen wurde geharkt und mit Herbiziden behandelt, um jedes Grün zu unterdrücken. Die Mauer selbst sollte den politischen Status quo einfrieren. Das lässt sich metaphorisch lesen: Auch wir können dem Tod nicht ins Räderwerk greifen. Irgendwann werden wir sterben. Wir tun gut daran, das nicht zu verdrängen. Seit vielen Jahren schon wächst auf meinen Vorschlag hin auf dem einstigen Todesstreifen ein Roggenfeld. Es ist ein Sinnbild für die Transformation. Das Feld wird grün mit dem Roggen. Er wird geerntet, getötet, zermahlen, zu Brot verarbeitet, das uns Nahrung ist. Wenn das Feld geeggt ist, ähnelt es wieder dem Todesstreifen. Bei der nächsten Aussaat keimt erneut die Hoffnung, und der nächste Zyklus beginnt.

Im vergangenen Jahr ist der Tod auf besondere Art zu uns gekommen. Hat sich durch Corona Ihre Arbeit verändert?

Nein. Ich habe nicht mehr, aber auch nicht weniger gearbeitet.

Aber die Beerdigungen haben sich verändert?

Wer in Corona-Zeiten auf Beerdigungen war, weiß, wie schwierig das ist. Dass das Taktile wegfällt, ist gerade in diesen Momenten ein Drama. Man will eben gern in den Arm genommen werden und braucht das Gefühl von Gemeinschaft.

Wie wird man aus der Zukunft auf die Corona-Pandemie und unser Tun dabei zurückblicken?

Da bin ich selber gespannt, ob man das als kleine Episode betrachten wird oder als Zäsur. An mir persönlich beobachte ich, wie ich mit zunehmendem Alter vorsichtiger und zuweilen auch ängstlicher werde. Die Nonchalance vergangener Tage, als ich Rocksongs gehört habe wie »I hope I die before I get old« scheint irgendwie vorbei. Das ärgert mich auch. Wenn ich ständig Angst habe, etwas zu verlieren, lebe ich schlechter. Das korrespondiert in unserer westlich-kapitalistisch geprägten Gesellschaft mit dem Bild, das wir vom Tod und vom Sterben haben. Wir ignorieren die Tatsache, dass uns alles am Ende zwischen den Händen zerrinnen wird. Wir gliedern den Tod aus und erleben ihn als unvorhersehbare, tragische Entgleisung.
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