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Zwei Rückeroberungen
Vor 70 Jahren nahm die Kampagne um die Wiederaneignung Helgolands Fahrt auf – und schüttelten Involvierte ihre Nazivergangenheit ab: eine doppelte Nachkriegsgeschichte.
Westerland, 22. Dezember 1950. Ein Mann hört im NWDR von Verhandlungen zwischen den Westmächten und Bonn über die Wiederbewaffnung. Dem neuen Staat gegenüber hat er kein rechtes Zutrauen, wie er seinem »lieben Freund« Dr. Ernst Neumann schreibt, dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer: »Alles, was das Vaterland angeht, muss noch schweigen und ist nicht in einem Stadium, dass man wagen könnte, auch nur etwas Konkretes zu wünschen.« Was sind das für Zeiten, in denen fremde Mächte hier das Sagen haben? Was wird aus dem am Boden liegenden Land, was aus seiner Familie, die immerhin froh darüber ist, statt einer Massenunterkunft wenigstens eine kleine Wohnung gefunden zu haben. Der Mann sucht dringend Arbeit. Er lebt von Arbeitslosenunterstützung. Eine Radiomeldung lässt ihn aufhorchen. Gestern seien zwei deutsche Studenten auf jener Insel gelandet, auf der er jahrelang das politische Sagen hatte.
Der Fels heißt Helgoland - und Karl Meunier heißt der Mann. Er ist 48 Jahre alt. In seinem Entnazifizierungsfragebogen steht als Beruf »Zoologe«.
Dr. phil. Michael Herms, Jahrgang 1955, ist Historiker. Er arbeitete von 2003 bis 2018 als Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Mecklenburg-Vorpommern. Zum Thema 2002 erschienen: »Flaggenwechsel auf Helgoland. Der Kampf um einen militärischen Vorposten in der Nordsee« (Christoph Links Verlag, Hardcover, 144 S., vergriffen).
Hamburg, 22. Dezember 1950. Ein Mann wartet in seiner Redaktion auf Nachrichten, Helgoland betreffend. Die Insel ist zu einer Frage der nationalen Souveränität geworden und in den Fokus politischer Debatten gerückt. Die Londoner »Times« hat prognostiziert: »Sobald die deutsche Regierung Partner der westlichen Verteidigung geworden ist, kann die Zukunft Helgolands rationaler diskutiert werden.«
Drei Tage zuvor hatten zwei Heidelberger Studenten dem Redakteur eine Sensation versprochen: »Wir werden nach Helgoland gehen und so lange dort bleiben, bis alle Welt weiß, dass das Unrecht an der Insel wiedergutgemacht werden muss.« Einen Kollegen konnte er ihnen nicht zur Seite stellen, immerhin aber eine gewisse Geldsumme für das Chartern des Kutters. Würde sich die Investition lohnen? Gestern hatte ihn die Nachricht ereilt, die Studenten seien tatsächlich nach Helgoland übergesetzt.
Der Mann schreibt für »Die Zeit«, sein Name ist Josef Müller-Marein. Er ist 43 und laut Fragebogen »Kapellmeister«.
Westerland, 24. Dezember 1950. Meunier hat im Radio gehört, die Studenten seien der Kälte wegen nach Cuxhaven zurückgekehrt. Dort von Helgoländern gefeiert, habe es andernorts Hohn und Spott gehagelt. Für Meunier ist Helgoland Schnee von gestern. Seine Familie um sich, ist er für den Moment zufrieden.
1945 in »automatischen Arrest« genommen, hatte der Secret Service bald von des Arrestanten früheren politischen Ämtern erfahren: NS-Ortsgruppenleiter auf Helgoland und zudem sehr engagiert bei den »Führerbesuchen« auf der gegen England hochgerüsteten Insel. Der Siegermacht geht es um »Hauptschuldige«, »Schuldige« oder »Minderbelastete«. Zu seinem Schutz verweist Meunier auf die Ehrenamtlichkeit seiner Funktionen und auf seine Dozentur an der Biologischen Anstalt auf Helgoland. Der erhofften Einstufung als Minderbelasteter stand die alliierte Charakterisierung der Politischen NSDAP-Leiter als Exponenten einer verbrecherischen Organisation entgegen. So hatte er gut zwei Jahre in Internierungslagern verbracht, während er auf ein Urteil der Spruchkammer wartete.
Weihnachten 1947 hielt er vor Mitgefangenen einen Vortrag »Naturwissenschaft und Religion«. Sein Auditorium bestand aus lauter »Minderbelasteten«, darunter der liebe Freund Neumann, einst Träger des Goldenen Parteiabzeichens.
1948 wurde Meunier als »Minderbelaster« mit Berufssperre entlassen. Seither lebt er in Westerland und wartet auf seine weitere Entnazifizierung. Vom Kreisprüfungsausschuss erhofft er sich eine entlastende Rückstufung. In Schleswig-Holstein ist das seit 1948 möglich und in manchem Fall durchaus schon erfolgt.
Die Verhältnisse, die sind nicht so, noch nicht, denkt sich Meunier, doch sind die Dinge nicht im Fluss? Manch Kamerad konnte längst wieder Fuß fassen. Neumann praktiziert als Tierarzt in Segeberg, niemand fragt mehr nach seiner Vergangenheit, seinem Goldenen Parteiabzeichen oder dem Dienstrang in der Waffen-SS. Und ist nicht Curt Heinrich, vormals NS-Ortsgruppenleiter im Kreis Rendsburg, maßgeblich an den »Kieler Nachrichten« beteiligt? Werner Stiehr ist, ungeachtet seiner früheren Funktion als NS-Kreisleiter, sogar in einer englischen Dienststelle tätig. Gibt es außer dem Spruch der Kammer nicht auch den Spruch »Die Zeit heilt alle Wunden«? Warum soll das ausgerechnet für ihn, Karl Meunier, nicht zutreffen? Zumal bei den Landtagswahlen 1950 die zuvor allein regierende SPD ihre Stellung als stärkste Kraft an den bürgerlichen Block verloren hat und der stramm antikommunistische Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) auf Anhieb ein Viertel der Wähler überzeugte und als drittstärkste Kraft zum Koalitionspartner der neuen CDU-geführten Regierung geworden ist?
Im Landtag sitzt eine Reihe ehemaliger Kameraden. Gerade werden die labour-sozialistischen Weichenstellungen, die Boden- und die Schulreform, zurückgedreht. Man hört, auch die Entnazifizierung werde bald ein Ende haben. Auch in Westerland bahnen sich Veränderungen an: SPD-Bürgermeister Nielsen hat sein Landtagsmandat verloren und der alte Kämpfer Reinefarth wird ihm auf der BHE-Liste das Bürgermeisteramt streitig machen. Dann ist Schluss mit der Entnazifizierung!
Hamburg, 3. Januar 1951. Müller-Marein ist jetzt zufrieden. Seine Finanzspritze für die Studenten war nicht umsonst. Morgen findet sich im Blatt sein Helgolandtext - unter Pseudonym: Jan Molitor. Den Namen benutzt er, seit die Briten ihm 1946 nach einigen, dem tausendjährigen Reich geschuldeten, Irrläufen, die Chance gaben, bei der Hamburger Wochenzeitung zu arbeiten, wohl wissend, dass der Autor als Luftwaffenoberstleutnant für den »Völkischen Beobachter« und für die Wochenzeitung »Das Reich« Kriegsberichterstatter gewesen war. 1940 erschien sein Buch »Hölle über Frankreich. Unsere Luftgeschwader im Angriff«, 1941 die Erzählung »Panzer stoßen zum Meer«. 250 Feindflüge und zwei Abschüsse lagen hinter ihm, als er in Gefangenschaft geriet, wo er eine britische Militärkapelle dirigierte und das Vertrauen der Briten gewann. Seitdem schreibt »Jan Molitor« für »Die Zeit«.
Die Helgoland-Ereignisse spitzen sich zu. Am 27. Dezember 1950 sind dort die beiden Studenten erneut gelandet. Unter den weiteren Inselbesetzern ist der aus dem Exil remigrierte Dozent Prinz zu Löwenstein. Am 3. Januar 1951 von der Insel geholt, erklärten die Besetzer in Cuxhaven der Presse: Bei weiteren Bombardements der Insel würden sie erneut dort landen, ansonsten ihren Kampf für deren Rückgabe auf dem Festland weiterführen.
Am 4. Januar 1951 schreibt »Molitor«: »Was Politiker nicht verstanden, das Volk verstand es. Die beiden Idealisten glauben an Deutschland und Europa.« Die Anwesenheit auch eines US-Studenten strafe alle Lügen, die von deutschem Nationalismus sprechen.
In der Redaktion weiß man um die britische Sensibilität in der Helgolandfrage wie um das westliche Interesse an der deutschen Wiederaufrüstung - und dass diese nicht umsonst zu haben sein wird. Das Risiko, es sich mit dem englischen Lizenzgeber des Blattes zu verderben, ist nicht mehr allzu groß. Immerhin hat die britische Seite erklärt, sie werde keine repressiven Maßnahmen gegen die bisherigen Inselbesetzer anwenden und nur gegen weitere Verstöße gerichtlich vorgehen.
»Molitor« hat den richtigen Riecher für eine medial wirksame Doppelstrategie: Fürs Volksgemüt ein Abdruck aus dem Tagebuch der beiden Studenten, für die politische Ratio Artikel des Prinzen zu Löwenstein. Dieser schreibt am 11. Januar 1951, seiner Meinung nach verlöre die UN-Menschenrechtserklärung nicht dadurch an Gültigkeit, dass es sich nur um eine Insel mit 2500 Einwohnern handele. Vielmehr werde Helgoland »zum Prüfstein des Bekenntnisses zum unabdingbaren Recht aller Menschen auf ihre Heimat sowie für die innere Einheit des europäischen Kulturraumes«. Ein Abgleiten seiner Aktion in nationalistische Ressentiments werde den Sinn der Aktion von Grund auf zerstören. »Helgoland ist ein Teil jenes abendländischen Bodens, den zu verteidigen wir aufgerufen werden und den zu verteidigen wir bereit sind. In einem Augenblick, da Deutschland, England und alle Länder westlich des Eisernen Vorhanges in ihrem geschichtlichen Bestande bedroht werden, ist es ein unerträglicher Widersinn, dass die Zerstörung, die vom Osten droht, schon vom Westen, innerhalb seines eigenen Raumes vorweggenommen wird, und sei es auch nur auf einer Insel von 150 Hektar.«
Menschenrechte! Abendland! Doch wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht das Gleiche. Nachdem auch westdeutsche FDJ-Mitglieder mehrfach nach Helgoland geschippert waren, sorgt »Molitor« für einen distanzierenden Beitrag Löwensteins: Es wäre ungut, in die schwebenden Verhandlungen einzugreifen, das sehe nach deutscher Doppelzüngigkeit aus. Die Kommunisten hätten ihre Versuche ohnehin nur unternommen, um Unfrieden zwischen Deutschland und England säen.
Müller-Marein ist zufrieden. Die Übergabe Helgolands an die BRD ist auf gutem Wege. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Briten auf ein Ausweichbombenziel einlassen werden. Zweifellos haben die Besetzungen der Helgolandfrage eine zunehmende politische und mediale Bedeutung zukommen lassen und »Jan Molitor« hat dazu seinen Beitrag geleistet.
Westerland, Mai 1951. Meunier hat diese Entwicklung zwar verfolgt. Für ihn kommt aber eine Rückkehr nicht in Frage, er ist vielen Helgoländern verhasst. Was würde man ihm nicht alles vorwerfen: die Verhaftung Unliebsamer verschiedenster Couleur, ehemaliger Logenmitglieder und der Schwulen, die Hitlerbesuche, die Nächte in den Bombenkellern, den Verlust des Heimatbodens?
1927 hatte Meunier in der Biologischen Anstalt Helgoland als wissenschaftlicher Hilfsassistent für Fragen der Vogelkunde begonnen. Ab 1934 Oberassistent, hat er durch seine NS-Ämter die Arbeit an der BAH stark vernachlässigt. Nach der Internierung verfasste Meunier eine Studie über das »Verhältnis von Gewicht zu Tragfläche beim Vogel«, anders als frühere Arbeiten ein Text rein mathematischer Natur. Neumann schrieb er: Hat ein halbes Jahr Arbeit gekostet. »Ich musste die Zeit aber opfern, weil ich Wert darauf legte, zuerst mit einer neutralen Arbeit herauszukommen, ehe ich mich in den Hexenkessel wage, in den meine Ihnen bekannten Anschauungen wahrscheinlich hineinführen werden. Hoffentlich habe ich mit der Veröffentlichung keine Schwierigkeiten!«
Wie hat sich die Situation seither geändert! Bei den Kommunalwahlen 1951 wurde der BHE mit 25 Prozent zweitstärkste Kraft, die SPD bekommt nur knapp 14 Prozent und im Kreistag halb so viel Sitze wie der BHE. In Westerland verlor der Sozi Nielsen das Bürgermeisteramt und Kamerad Reinefarth wird nicht müde, seinen Anspruch darauf zu erheben.
Die Schwierigkeiten für Meuniers Bewerbung im öffentlichen Dienst sind aus dem Weg geräumt, nachdem der Landtag ein Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung verabschiedet hat und somit vielen Kameraden die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglichte. Gerade hat die Kieler Universität Dr. Wolf Herre mit einer Professur und mit dem Posten eines Institutsdirektors bestallt sowie zum Dekan der Landwirtschaftlichen Fakultät berufen. Seit 1945 hatte Herre wegen seiner Mitgliedschaft in der SA und in der NSDAP nur als Privatdozent beschäftigt werden können. Das spielt nun keine Rolle mehr, fortan gilt nur noch Fachliches. Warum sollte sich Meunier nicht auf eine wissenschaftliche Stelle bewerben?
Helgoland, 1. März 1952. Mit einem feierlichen Akt wird die Insel an die BRD übergeben. Vier Jahre später können die Helgoländer zurückkehren. Als 1960 die Biologische Anstalt ihre Arbeit wieder aufnimmt, wohnt Meunier nicht mehr an der Nordsee, sondern nahe der Kieler Förde und ist wissenschaftlicher Referent an der Staatlichen Vogelschutzwarte an der Uni Kiel. Meunier stirbt 1986, Müller-Marein, seit 1957 Chefredakteur der »Zeit«, 1981 in Frankreich.
Ob Molitor oder Meunier - übersetzt hießen beide Müller. Und waren auch so: ganz normale Deutsche.
Dr. jur. Heinz Reinefarth war 1944 als Generalleutnant der Waffen-SS und der Polizei Kommandierender General bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes, was 250 000 Menschenleben forderte. Als Kommandant von Küstrin brach er mit einer Einheit aus, wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt und ergab sich im Mai 1945. Es folgte eine dreijährige US-Gefangenschaft. Polens Auslieferungsverlangen wurde nicht stattgegeben, da er unterdessen Informant des US-Spionageabwehrdienstes CIC war. 1949 sprach ihn ein Spruchgericht frei: Sein Handeln sei durch Befehle gedeckt. Ein Folgeverfahren stufte ihn 1949 als »Entlasteten« ein. Nach der Zulassung als Rechtsanwalt wurde er 1951 Bürgermeister von Westerland. 1957 entlarvte der DEFA-Dokumentarfilm »Urlaub auf Sylt« den Schlächter von Warschau. Trotz weiterer Hinweise behielt er sein Amt bis 1964 inne und war 1958 bis 1962 Mitglied des Kieler Landtags. Dieser verurteilte seine Gräueltaten in Warschau - im Juli 2014.
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