Unter Erwachsenen

Andreas Koristka nimmt sich ein Beispiel an Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer

Reden ist eine wunderbare Sache. Die Sprache hält unsere Gesellschaft zusammen. Wir können mit ihr Brücken überwinden oder 500 Gramm gemischtes Hack an der Frischetheke im Supermarkt verlangen. Michael Kretschmer hat jüngst bewiesen, was möglich ist, wenn wir im Gespräch bleiben und uns gegenseitig zuhören. Er hat sich die Zeit genommen, hat den Schneeschieber Schneeschieber sein lassen und sich bei niedrigen Temperaturen mit den Bürgern unterhalten, die die Gelegenheit nutzten, um während eines winterlichen »Besuchs« am Privathaus des sächsischen Ministerpräsidenten freundlich im Ton, aber bestimmt in der Sache unter anderem Kretschmers Einkerkerung zu fordern.

Gespräche mit Verschwörungserzählern sind das neue Mit-Nazis-reden. Und sie sind genauso erfolgreich! Obwohl der MP dem Anliegen seiner Gäste mit dem eigenständigen Anlegen von Handschellen nicht nachkam, war man so gut und plauderte noch eine Weile mit ihm. Den Videomitschnitt kann man bei Youtube anschauen. Wenn man das tut, sieht man, wie einfühlsam Kretschmer die Seelen der Menschen bearbeiten kann. Es ist eine verdammte Gabe! Ich selbst habe schon Jugendliche, die weit weniger penetrant waren als diese Wutrentner, vom Fenster meiner Erdgeschosswohnung aus mit Biomüll beworfen.

Sachsens erster Mann ist da ganz anders geklöppelt. Er hört erst mal zu. Denn niemand ist per se ein schlechter Mensch, nur deshalb, weil er nicht möchte, dass finstere Mächte im Hintergrund maßlos Kinderblut wegsaufen. Man muss Verständnis zeigen und versuchen, die Gesprächspartner auf den rechten Pfad der Demokratie zurückzuholen. Immer wieder zuhören! Und dann ist es gestattet, auch mal Offensichtliches zuzugeben. Ja, Bill Gates sieht einem Reptil verdächtig ähnlich, und dass er sich alle zehn Sekunden mit seiner Zunge über die Pupille leckt, macht die Sache nicht besser. Aber das heißt doch nicht, dass er die Weltherrschaft anstrebt oder dass Windows jedes Mal auf seinen Befehl hin abstürzt.

Man sollte dazu bereit sein, die Leute argumentativ zu widerlegen. Wenn man wirklich vorbereitet sein möchte, dann hat man während solcher Gespräche immer ein riesiges Bohrgerät zur Hand, um nachzuweisen, dass bei den hohen Temperaturen im Erdinneren nicht einmal der Führer überleben könnte. Kretschmer hatte nur einen Schneeschieber dabei. Das muss er sich vorwerfen lassen.

Sei es drum. Auch so werden viele seiner Besucher mit einem nachdenklichen Gefühl nach Hause gegangen sein. Vielleicht kam ihre Wandlung nicht sofort. Aber die Saat des Zweifels hat Kretschmer vielleicht in ihnen gesät. Jetzt, wahrscheinlich genau in diesem Moment, geht sie auf und wuchert in ihre Hirne. Wir wissen nicht, wie viele seiner Gesprächspartner in dieser Sekunde den Mitgliedsantrag der CDU unterschreiben. Wir können nur ahnen, dass es fast alle sind.

Der Appell geht also an uns! Wir müssen mehr mit den Leuten sprechen. Wir müssen ihre Sicht der Dinge erfahren. Ist Corona eine Erfindung der Medien, der Chinesen oder der Juden? Ist das Virus nicht existent, nicht so schlimm oder soll es dazu beitragen, dass man uns alle mit Impfungen chippt, ermordet oder unfruchtbar macht? Wissen wir über diese Fakten Bescheid, machen wir uns zu kompetenten Gesprächspartnern auf Augenhöhe.

Dissonanzen zwischen Erweckten und Schlafschafen müssen ausdiskutiert werden. Da sollte niemand die Polizei rufen, nur weil ein paar Leute das eigene Anwesen belagern. Den Menschen hängen die Gedanken quer. Da muss man ihnen doch helfen! Wenn einen jemand in der S-Bahn grundlos beschimpft und dabei Tiergeräusche macht, dann wendet man sich doch auch nicht an den Sicherheitsdienst oder wechselt das Abteil, sondern klärt die Sache ruhig und vernünftig unter Erwachsenen.

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