»Wenn eine Gruppe immer putzen muss ...«
Ein Gespräch mit dem Soziologen Serhat Karakayali über den Zusammenhang von Arbeitsmigration und Gymnasialempfehlungen
OXI: Inwieweit waren »Gastarbeiter« eine besondere deutsche Erfindung?
Karakayali: Deutschland war natürlich Vorreiter in dem Sinne, dass es hier die allergrößte Zahl von »Gastarbeitern« gab. Das hat auch mit der Größe der BRD zu tun und mit dem Mangel an Arbeitskräften. Besonders seit 1961 mit dem Bau der Mauer der vorhergehende ziemlich konstante Zufluss von Arbeitern aus der DDR gestoppt wurde. Wenn man das jetzt nicht als »Gastarbeiterregime« sondern als Rekrutierungssystem bezeichnet, um den Arbeitsmarkt zu internationalisieren, dann gab es in den USA beispielsweise das sogenannte »Bracero«-Programm, abgeleitet vom spanischen Wort für Arm, im Sinne von »Handarbeit«. Das lief im gleichen Stil, man hat dort in großem Umfang mexikanische Arbeiter angeworben, insbesondere für die landwirtschaftliche Produktion. Räumliche Nähe und historische Verbindungen sind wichtige Faktoren für die Herausbildung eines solchen Rekrutierungssystems. Arbeiter*innen aus Nordafrika sind nach Frankreich, die aus Italien eher nach Deutschland gegangen. Verträge mit außereuropäischen Ländern wollte die deutsche Regierung möglichst vermeiden. Wo es dennoch dazu kam, im Falle Marokkos etwa, spielten vor allem außenpolitische Erwägungen eine Rolle.
Das klingt ja genau nach der Art von Einwanderung, die heute auch wieder gefordert wird. Passgenau nach dem Bedarf der Wirtschaft und bürokratisch gut geregelt.
Na ja, es gibt immer diese Vorstellung, die deutsche Regierung sei da von selbst aktiv geworden und habe sich Leute geholt. Aber wenn man die Entwicklung genauer anschaut, sind solchen Abkommen oft über längere Zeiträume informelle Rekrutierungspraktiken vorausgegangen, die dann durch die Abkommen legalisiert wurden. Besonders deutlich wird das am Beispiel Jugoslawiens, von wo Ende der 1960er Jahre die mit Abstand meisten Asylanträge kamen (und fast immer abgelehnt wurden). Den deutschen Behörden war klar, dass es sich bei den Leuten eigentlich um Arbeitsmigrant*innen handelt und mit dem Abkommen schuf man dann einen legalen Rahmen für diese Praxis. Man könnte das mit der heutigen Westbalkanregelung vergleichen, wo durch die Vereinfachung der Visavergabe die Leute davon abgebracht werden sollen, Asylanträge zu stellen.
Gibt es denn irgendeine Vorstellung davon, wie sich die Konjunktur entwickelt hätte, wenn man stattdessen gesagt hätte, wir internationalisieren den Arbeitsmarkt nicht?
Alternative Entwicklungsszenarien gibt es jetzt nicht wie Sand am Meer, aber die Standardidee ist, dass Gastarbeiteranwerbung eine Alternative zu einer früheren Rationalisierung und Modernisierung des westdeutschen Maschinenparks war. Der Zwang zur Modernisierung wird im Kern durch die Verteuerung der Arbeitskraft ausgelöst. Im Gespräch war seinerzeit auch die Mobilisierung von Frauen, aber was die Internationalisierung als Strategie so attraktiv macht, ist die unglaubliche Flexibilität, die man damit erreichen kann. Anstatt inländische Arbeiter*innen aus anderen Regionen in die Betriebe locken zu müssen, konnte man sie zielgerichtet anwerben. Es war weder nötig, in ihre Ausbildung zu investieren, noch, sich um weitere Infrastruktur zu kümmern: Die meisten lebten in den 1960er Jahren in Lagerunterkünften, denn sie waren entweder alleinstehend oder hatten ihre Familien in der Heimat zurückgelassen. Im Falle einer ökonomischen Flaute sind die Kosten nicht nur, wie bei allen anderen Arbeiter*innen auch, betriebswirtschaftlich leicht zu externalisieren, sondern auch volkswirtschaftlich. Wer keine Arbeit mehr hatte, der verlor nicht nur über kurz oder lang das Aufenthaltsrecht, sondern wollte meist von selbst ins Herkunftsland zurück. Bis zum Anwerbestopp 1973 sind mit knapp 14 Millionen Arbeiter*innen ein Vielfaches der Menschen gekommen, die später geblieben sind.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang nun der im Menschen abrufbare Rassismus? Ist er der Grund, warum bei Arbeitsmigrant*innen miese Bezahlung, unmenschliche Wohn- und Arbeitsverhältnisse akzeptiert werden, weit unter den Standards, die wir sonst in diesem Land anlegen?
Das ist ein kompliziertes Problem: Natürlich zeigen sich rassistische Denkmuster auch in der Rekrutierung, etwa wenn man in ministeriellen Akten lesen kann, dass eine Anwerbung koreanischer Frauen wegen ihrer hohen Anpassungsfähigkeit unproblematisch sei. Einen funktionalen Zusammenhang kann es aber nicht geben denn Gesellschaften sind nun mal keine Programme, Theaterstücke oder Maschinen, die von irgendwem entworfen und betrieben werden. Ich würde eher umgekehrt sagen: Entwürdigende, oder schwere, körperlich belastende Arbeiten machen etwas mit den Menschen – und auch, wie sie gesehen werden. Wenn sie dann immer die gleiche Gruppe treffen über einen bestimmten Zeitraum, wird diese Gruppe durch diese Tätigkeiten stigmatisiert. Wenn eine Gruppe immer putzen muss, ist sie am Ende die Putzgruppe, deren Eigenschaften damit verschmelzen.
Den entscheidenden Anreiz auf der Angebotsseite stellt die Kaufkraftparität dar: Aufgrund der deutlich niedrigeren Lebenshaltungskosten in den Heimatländern erzielen Arbeitsmigrant*innen besonders gute Einkommen, solange sie diese nicht hauptsächlich in Deutschland ausgeben müssen. Schlechte Arbeits- und Wohnbedingungen, Segregation und Diskriminierung, die Inkaufnahme statusbedrohlicher Arbeiten, all das kompensieren die Arbeitsmigrant*innen damit, dass sie mit ihrem Lohn im Herkunftsland überproportional viele Güter erwerben können. Dies ist auch heute noch ein relevanter Faktor in zirkulären Migrationsregimen, wo es also nicht zu einer Niederlassung im Migrationsland kommt. Die Pflegekraft meines Vaters in Istanbul hat als Lehrerin ca. 50 Dollar in Usbekistan verdient. Als Care-Arbeiterin verdient man in der Türkei mehr als das Zehnfache dieser Summe. Mit dem Einkommen können sie die eigene und erweiterte Familie versorgen und Statusaufstieg erreichen. Die Familie der Pflegerin meines Vaters jedenfalls lebt dank ihr in einem mehrstöckigen Landsitz mit Kamin, Pool und Sauna. Aber in dem Augenblick, wo der Lebensmittelpunkt sich verschiebt und man beginnt dort zu leben, wo man arbeitet, kollabiert dieser Vorteil.
Das würde ja für eine neoliberale bis rechte Argumentation sprechen, die sagt, wenn die Leute temporär kommen, Jobs machen, die sonst keiner macht, und dann wieder gehen, ist es für alle schön und gut.
Die betroffenen Arbeiter*innen bezahlen dafür einen hohen Preis: Sie sehen ihre Familien nicht oder können keine gründen, sie verzichten teils auf Konsumgüter und Wohnraum. Man kann sein Leben auf Dauer nicht derart entlang einer Nutzenmaximierung ausrichten. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass die ganze ethnische Segregation ohne diesen Mechanismus anders aussähe. In den 1970er Jahren hatte dieser Prozess dazu geführt, dass ein erheblicher Teil des Niedriglohnsektors, also Jobs, »die sonst keiner machen würde«, von Migrant*innen besetzt waren. Dass die »Ausländer« die Arbeit machen, für die sich die Deutschen »zu schade« seien, war jahrelang der Refrain, mit dem auf ausländerfeindliche Stimmungen reagiert wurde. Unter anderen Arbeitsmarktbedingungen – einer deutlich höheren Erwerbslosenquote etwa – hätten das vermutlich einfach deutsche Arbeiter*innen gemacht. Die ticken ja nicht grundsätzlich anders, sondern machen nur deshalb bestimmte Jobs nicht, weil sie es sich leisten können, sie nicht zu machen. Also in dieser Hinsicht handeln alle entlang der gleichen Logik, nur die Grenzwerte liegen unterschiedlich. Eine solche Aufteilung führt aber zu einer ethnischen, oder nationalen, wie auch immer man das nennen will, Kodierung von Status und dazu, darauf hatte André Gorz bereits Mitte der siebziger Jahre hingewiesen, dass ein doch signifikanter Teil der Arbeiterklasse nicht oder nur sehr indirekt im politischen System vertreten ist.
Welche Folgen hatte das für die Interessenvertretung in den Betrieben und durch Gewerkschaften?
Wer die Interessen von Arbeitenden vertritt, weiß natürlich, dass es für alle nicht gut ausgehen kann, wenn es einen Teil der Arbeiterschaft gibt, der besonders erpressbar ist oder unter besonders schlechten Bedingungen arbeitet. Dabei stehen die Gewerkschaften allerdings immer vor einem doppelten Problem, weil sie natürlich die Erweiterung des Angebots der Ware Arbeitskraft kritisch sehen müssen. Sie schwanken daher stets zwischen einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber einer solchen Mobilität und der Forderung, dass die Leute, sobald sie da sind, Rechte haben müssen. Die Gewerkschaften haben durchaus beides vertreten und sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass es seit 1973 mit der Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes ein passives Wahlrecht für ausländische Betriebsangehörige gibt. Das ist fast schon revolutionär, wenn man bedenkt, dass in fast allen anderen gesellschaftlichen Bereichen das aktive oder passive Wahlrecht immer noch an die deutsche Staatsangehörigkeit geknüpft ist.
Zu den sozialen Folgen für diejenigen, die eben nicht zurückgegangen sind: niedrigere Renten, weniger Vermögen, schlechtere Wohnverhältnisse. Inwieweit setzt sich das in den folgenden Generationen fort?
Was sich neben der knappen Rente am deutlichsten als Problem abzeichnet, ist der Transfer von Bildungskapital und kulturellem Kapital. Der wird verstärkt durch das deutsche Bildungssystem. Was wir wissen, ist: Die sogenannte Bildungsaspiration ist viel höher als bei der mehrheitsdeutschen Bevölkerung. Alle wollen, dass ihre Kinder Abitur machen und studieren, aber das gelingt durchschnittlich weniger als bei der Mehrheit. Wenn ein Kind von Migranten Abitur macht, dann oftmals, weil sich die Eltern über die fehlende Gymnasialempfehlung hinwegsetzen. Das deutsche Bildungssystem ist ja sehr hübsch und deutlich auf die Reproduktion von Unterschieden zwischen den gesellschaftlichen Klassen angelegt. So ist es in gewisser Weise auch konsequent, dass die Kinder von Arbeiter*innen, die die meisten Migrantenkinder nun doch waren, wie die aller anderen Arbeiter*innen auf die Hauptschule verwiesen werden. Heute hat sich die Situation insofern noch verschärft, als die Nachfahren der Gastarbeiter auch mit hohen Bildungsabschlüssen schwerer einen Job bekommen.
Welche Diskriminierungsmechanismen sind da konkret am Werk?
Was wir diesbezüglich sicher über Deutschland wissen ist, dass nicht nur die Qualifikationen, sondern auch andere Kriterien darüber entscheiden, ob Bewerber*innen zu Gesprächen eingeladen werden. Dabei geht es keineswegs um grammatikalische Fehler oder Rechtschreibung. Das prüfen Forscher*innen in sogenannten Korrespondenzstudien, indem sie systematisch Tausende von fiktiven Bewerbungsschreiben auf reale Stellenanzeigen verschicken. Wer durch Bild, Namen oder andere Informationen eine türkische oder arabische Herkunft sichtbar macht, hat deutlich schlechtere Chancen, als jemand mit deutschem Namen. Bewerber*innen mit chinesischen Merkmalen wiederum hatten, laut einer Studie des WZB, überdurchschnittlich gute Chancen, eingeladen zu werden.
Derartige Mechanismen der Diskriminierung entstehen, indem bestimmte Ethnien, Religionen, Geschlechter, Hautfarben entlang historischer Tendenzen und Konjunkturen mit bestimmten Eigenschaften verbunden werden. In den USA z. B. ist »Schwarzer Mann« mit Gewalt assoziiert, Jude mit Einfluss und Geld, Islam mit Terrorismus. Es gibt unzählige Situationen, in denen das zum Tragen kommt und darum geht es z. B. beim Konzept der Anonymisierung von Bewerbungen: Als bei den New Yorker Philharmonikern eingeführt wurde, dass man hinter einem Vorhang vorspielt, wurden auch Frauen eingestellt, die ein anderes Instrument als die Harfe spielen. Wenn man angehenden Mathelehrern Arbeiten vorlegt, auf denen der Name »Murat« steht, werden die schlechter benotet als die gleichen Arbeiten, wenn oben »Max« steht. Ohne Namen erhielten beide die gleiche Note. Wir können natürlich nicht unser ganzes Leben so gestalten, aber es macht doch deutlich, wie sehr unsere Wahrnehmung uns täuschen kann. Mit realen Folgen für das, was Menschen verdienen, wo sie wohnen, für ihre Gesundheit – also letztlich für ihre gesamten Lebenschancen. Wer zehnmal so oft wie andere nicht eingeladen wird, muss sich entweder zehnmal häufiger bewerben oder den Berufswunsch ändern. Wer also unter diesen Bedingungen einen Job findet, ist entweder besonders resilient oder besonders flexibel.
Dr. Serhat Karakayali ist Leiter der Abteilung Migrationsforschung am Deutschen Zentrum für Integrationsund Migrationsforschung (DeZIM) und forscht außerdem am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Das Gespräch führte Sigrun Matthiesen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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