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Lückenhafter Infektionsschutz
Deutschland tut sich immer noch schwer damit, die am meisten Gefährdeten vor Corona zu schützen
Mitte Dezember starb in Deutschland fast alle drei Minuten ein Mensch im Zusammenhang mit einer Covid-19-Infektion. Mehr als einen Monat später sind die Infektionszahlen weiterhin hoch. Auch die Zahlen der innerhalb von 24 Stunden Verstorbenen erreichten immer wieder neue Rekorde: 1188 waren es am 8. Januar, 1244 am 14. Januar. Für diese Werte gilt einschränkend, dass es hier Nachholeffekte durch die Feiertage geben kann. Insgesamt werden in Deutschland, Stand Dienstag, über 47 000 Corona-Tote betrauert.
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts waren in Deutschland rund 85 Prozent aller Verstorbenen älter als 70 Jahre. Der allergrößte Teil litt an einer oder mehreren Vorerkrankungen. Außerdem stammt rund die Hälfte aus Altenheimen, bilanziert eine Untersuchung der Universität Bremen. Die Kombination aus höherem Alter, einer Vorerkrankung oder Risikofaktoren wie Bluthochdruck erhöht die Gefahr für einen schweren Covid-19-Verlauf, soviel ist sicher.
Obwohl nur ein Prozent der Einwohner Deutschlands in Pflegeheimen lebt, sind hier die Todesfälle, verglichen mit den übrigen Lebensorten, am höchsten. Und es gelingt immer noch nicht, diese zahlenmäßig eigentlich kleine Gruppe zu schützen. Während einerseits von vielen Betroffenen und ihren Angehörigen beklagt wird, dass Kontakte extrem erschwert oder ganz unterbunden wurden, gibt es andererseits immer wieder Infektionscluster in den Einrichtungen.
Die Einfallstore dafür sind »nicht bekannt«, über sie kann nur spekuliert werden: Sind es Pflegekräfte und andere Beschäftigte, die auch wegen unzureichenden Schutzmaterials oder schlechter Schulung die Hygieneregeln nicht ernst nehmen? Oder nehmen sie diese nicht ernst, weil die zusätzliche Aufgabe in der täglichen Arbeitshetze einfach nicht zu bewältigen ist? Oder weil sie nicht einsehen, bei der schlechten Bezahlung weitere Aufgaben zu übernehmen? Hier gibt es Wissenslücken.
Im Groben weiß jeder Politiker, dass eine Aufwertung der entsprechenden Berufe an der Tagesordnung ist. Aber selbst die kurzfristigen Maßnahmen (mehr und regelmäßig testen, seit neuestem auch impfen) erfolgen eher halbherzig. Nach der ersten Impfdosis etwa treten in einem Heim im Kreis Segeberg (Schleswig-Holstein) plötzlich eine ganze Reihe von Infektionen auf, bei Personal und Bewohnern. Immerhin wurde fünf Tage nach der ersten Impfung getestet, und die Verläufe bei den Erkrankten sind bislang leicht, nur eine Bewohnerin musste ins Krankenhaus. Der Fall, noch nicht bis ins letzte Detail aufgeklärt, birgt zugleich eine wichtige Erinnerung für alle, die geimpft werden: Die Immunität baut sich im Körper erst innerhalb von 14 Tagen auf.
Zu den jüngsten an Covid-19 Verstorbenen in Deutschland gehört ein achtjähriges Mädchen aus Ingolstadt, das eine schwere Grunderkrankung hatte. Ihr Fall wurde im Dezember bekannt, nicht veröffentlicht wurde hingegen, wo und wann sich das Kind angesteckt hatte. Auf jeden Fall war es auch hier nicht gelungen, das bekanntermaßen kranke Kind vor einer Infektion zu schützen. Gleiches gilt für alle Menschen, die - meist auf einer Intensivstation - ihr Leben wegen Sars-CoV-2 zu früh beenden mussten.
Das Robert-Koch-Institut gibt eine tagesaktuelle Übersicht heraus, in der auch die Verstorbenen erfasst sind, die in verschiedensten Gemeinschaftseinrichtungen betreut oder beschäftigt waren. Deren Gesamtzahl umfasst jedoch nur einen Bruchteil der jeweils innerhalb von 24 Stunden Verstorbenen hierzulande. Entsprechend lückenhaft zeigt sich die bisherige Forschung zu den Ansteckungsorten. Einige Hotspots wurden in den vergangenen Monaten sichtbar: Pflegeheime gehörten dazu, aber auch Clubs, religiöse oder Familienfeiern, Skiorte beziehungsweise die Clubs dort. Teils wurden die genannten Orte geschlossen und Zusammenkünfte untersagt.
Das heißt nicht, dass diese Verbotspolitik funktioniert. Je weiter eine Einschränkung ins Private hineinwirkt, um so mehr ist die Einsicht der Beteiligten entscheidend. Auch hier scheint ein Knackpunkt der deutschen Coronapolitik zu liegen: Ist das Vertrauen in die Bevölkerung gerechtfertigt oder sind eher schärfere Kontrollen und Sanktionen angesagt? Ein Grundübel ist weit von seiner Auflösung entfernt: Weil sich bei Zusammentreffen jüngerer und gesunder Menschen zwar Ansteckungen ergeben, aber weniger Erkrankungen, wird die Infektionskette lange nicht unterbrochen.
Außerdem bleibt, ebenso wie in den Pflegeheimen, das Ansteckungsgeschehen in Wirtschaft und Verwaltung undurchschaubar. Arbeiten im Homeoffice gilt als sicherer. Was in Betrieben und Büros in Hygienefragen geschieht, bestimmen vor allem und mit offenbar sehr unterschiedlicher Ernsthaftigkeit Arbeitgeber, aber nicht sie allein. Da der ganze Bereich offenbar weiter vor staatlichem Durchgriff geschützt werden soll, bleibt der Politik also nur, gegen Ansteckungsmöglichkeiten im Privaten oder bei der Mobilität vorzugehen. Aber auch das erfolgt unentschlossen. Wenn jetzt fünf Prozent der positiven PCR-Tests auch auf neue Virusvarianten untersucht werden, ist das die geringste Wissenslücke, die in Deutschland in Sachen Covid-19 zu schließen ist.
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