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Druck aufs Gewerbe wächst
Stadtentwicklungsexperten fordern Umverteilung der Kosten der Coronakrise
«Solidarität ist etwas für die anderen», beschreibt der Soziologe Heinz Bude das Gefühl, das viele Menschen vor der Coronakrise zu dem Begriff hatten. Man empfand sich als stark und selbstbestimmt und wollte sich solidarisch mit anderen zeigen, denen es schlechter ging. «Plötzlich scheinen wir alle solidaritätsbedürftig zu sein», so der Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Er geht davon aus, dass mit der Pandemie auch ein neues soziales Kapitel in der Stadtentwicklung aufgeschlagen wird.
Das Bild der guten Gesellschaft als Gemeinschaft starker Einzelner mit diversen Emanzipationsbewegungen sei seit den 1980er Jahren wirkmächtig gewesen, nun müsse die Solidarität stärker in den Fokus rücken. «Eine gerechte Stadt muss auch solidarisch sein, sonst ist es eine kalte Stadt», sagt Bude. Das habe sich bereits vor Corona gezeigt, sagt er und verweist auf die Hitzewellen der vergangenen Jahre. Die ersten Opfer seien sozioökonomisch gut gestellte ältere Frauen gewesen. «Sie sind als Erste gestorben, weil sie niemanden hatten, der nach ihnen geschaut hat», so der Soziologe. Die Stadt der Zukunft müsse ein «Ort sein, wo man Sorge trägt füreinander», allerdings «ohne sich die Luft zu nehmen, die die Freiheit ist».
Es ist ein ungewöhnlich philosophischer Aufschlag, der am Montagabend beim Stadtforum der Stadtentwicklungsverwaltung gewählt wird. Unter dem Titel «Pandemie! Auswirkungen gestalten und Chancen nutzen» wird in mehreren Runden online diskutiert.
Ganz konkret auf Unterstützung angewiesen sind unter anderem derzeit die Betreiber von Clubs, Gastronomie und Geschäften. «Es war klar, dass wir die Ersten sind, die zumachen und als Letzte wieder aufmachen werden», sagt Pamela Schobeß. Sie betreibt den Club Gretchen in Kreuzberg und ist Vorstandschefin der Berliner Interessenvertretung Clubcommission. «Es ist klar, dass das Infektionsrisiko sehr hoch ist. Deswegen jammern wir auch nicht», so Schobeß. Unglücklicherweise sei man auf die Unterstützung von Bund und Land angewiesen. Ihnen fehle auch das Miteinander, zumal Clubs oft Räume für marginalisierte Gruppen anbieten. «Es ist mehr als tragisch, dass diese Räume gerade nicht zur Verfügung stehen», sagt die Clubchefin. Ohne finanzielle Unterstützung gingen diese Orte verloren.
Gerade auch bei der Frage der Gewerbemieten agiert die schwarz-rote Bundesregierung mehr als halbherzig. Im Dezember kündigte die Koalition eine Gesetzesänderung an, mit der auch die Corona-Pandemie als Grund für Mietminderungen bei Gewerberäumen herhalten können soll. «Es ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, der den meisten aber gar nichts bringt», sagt Katalin Gennburg zu «nd». Denn letztlich müssten die Mieter den möglichen Anspruch zivilrechtlich ausfechten, erklärt die Stadtentwicklungsexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus.
Bereits im Oktober 2020 hatte die Linke im Bundestag einen Gesetzentwurf eingebracht, der Gewerbetreibende zu pandemiebedingten Kürzungen der Nettokaltmiete um 30 bis 50 Prozent berechtigen sollte. Auch für Kündigungen wegen Mietrückständen sollte ein Moratorium gelten. Der Antrag fiel durch. Im Dezember hat die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus einen Antrag für eine ähnliche Gesetzesinitiative beschlossen, die das Land Berlin im Bundesrat einbringen soll.
«Wir brauchen eine Umverteilung der Krisenkosten auf die Vermögenden, die nur durch Vermietung und Verpachtung ihr Geld verdienen», sagt Katalin Gennburg. «Nach bald einem Jahr Pandemie ist der Punkt erreicht, an dem man den Druck auf Gewerberäume und Innenstädte durch die galoppierenden Gewerbemieten nicht mehr wegdiskutieren kann.» Zumal durch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bereits eine riesige Bugwelle an Pleiten da sei, die man derzeit bloß noch nicht sehen könne.
Für Senatsbaudirektorin Regula Lüscher (parteilos, für Linke) ist die «Frage der Gewerbemieten eindeutig auf der Tagesordnung». Und das nicht erst seit der Pandemie. «Hoffen auf Vernunft» bei den Vermietern sei das eine. Sie sieht aber auch den Gesetzgeber am Zug: «Ich habe noch nie erlebt, dass es nicht ein wenig sanften oder weniger sanften Druck braucht.»
«Wenn die Stadt überleben will, braucht es die Mischung», erklärt Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Zwar glaubt er, dass auch einige private Immobilienmarkt-Akteure diese Einsicht hätten. «Aber ohne Regulierung von staatlicher Seite wird das nicht gelingen.» Gewerbeplanungsrecht und -mietrecht stünden «ganz oben auf der Agenda».
«In der Pandemie hat sich gezeigt, dass genau der gentrifizierungsbedrohte Teil der Stadt vermisst werden wird», sagt Architektin Barbara Hoidn und bestätigt damit die Zielsetzung der Stadtentwicklungspolitik der rot-rot-grünen Koalition. Für Senatsbaudirektorin Lüscher hat sich die polyzentrale Struktur Berlins mit den vielen Kiezen und Zentren als «durchaus krisenrobust» erwiesen.
Eine erfreuliche Entwicklung in der Pandemie ist in den Augen von Christian Wertmann der Umstand, «dass die Freiräume so einen Wert erhalten haben». Die Krise habe mit den Pop-up-Radwegen gezeigt, dass man die Straßen umbauen könne. Der Professor am Institut für Landschaftsarchitektur an der Uni Hannover fordert einen «Umbau in eine lebensgerechtere Umwelt, die nicht vom Auto dominiert wird».
Berlin müsse «jeden Millimeter Boden entsiegeln», bei dem das möglich sei, man müsse vom Anbau der Stadt zum Umbau kommen«, sagt Regula Lüscher. Sie warnt vor neuerlichen finanziellen Einschnitten in den Haushalten wegen der Kosten der Krise. »Es wäre genau der falsche Moment zu sagen: Jetzt machen wir wieder radikale Sparpolitik«, ist sie überzeugt. Weil der Boden die Grundlage der Weiterentwicklung der gemeinwohlorientierten Stadt sei, müssten die Bemühungen um den Zugriff darauf zunehmen. »Dass ein kleiner Überdruck weggeht und etwas Freiräume frei werden, muss uns animieren«, sagt Lüscher. Ob aus der Krise dann auch ein Aufbruch wird, muss sich allerdings noch zeigen.
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