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- NS-Geschichte im Fußball
Jenseits der »Gleichschaltung«
Warum der Fußball so lange brauchte, sich seiner NS-Geschichte zu stellen
Der Sport ist in Sachen Geschichtsarbeit ein Nachzügler. So kann er sich auch nach bisher fünf »Carl-Diem-Debatten« seit den westdeutschen 1950ern nicht zu einer kritischen Haltung gegenüber dem Sportfunktionär durchringen, der die Olympischen Spiele von 1936 organisierte. Und auch im deutschen Lieblingssport Fußball bewegte sich die Aufarbeitung lange im Schneckentempo. Erst um 2000 begannen man sich für Fragen wie die zu interessieren, wie sich Spieler und Offizielle anpassten, wer sich verweigerte und wer kooperierte, gar profitierte - und wer »verschwand« - als Jude, als Linker. Wie weit dieser Weg aber war, weiß kaum jemand besser als Dietrich Schulze-Marmeling.
Die Arche-Noah-Erzählung
Fabian Kunow, geboren 1979, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bildungsverein Helle Panke e. V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Er interessiert sich für Sport und das Drumherum - und wartet sehnlichst auf die Wiedereröffnung der Stadien.
»In den 1950ern wurde so gut wie gar nicht darüber geredet. Auch seitens der Opfer häufig nicht, im Sinne des Vereinsfriedens«, sagt der Autor und Historiker. Gestützt wurde das Schweigen dabei von der Führung des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Dieser habe in der Nachkriegszeit das harmonische Selbstbild einer »unpolitischen Arche Noah« verbreitet, die »stabil durch die diversen politischen Herrschaftsformen segelte: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazijahre - nun halt die Bundesrepublik«. Wer an dieses Dogma rührte, wurde harsch zurückgewiesen. Selbst der bekannte Intellektuelle Walter Jens wurde, so Schulze-Marmeling, »zur persona non grata erklärt«, als er zum 75. Jahrestag des 1900 gegründeten DFB vor versammelten Honoratioren mehr Geschichtsarbeit einforderte. Danach tat sich lange nichts, im DFB wie auch vor Ort. Wenn der Verband kein Problem hatte, wieso sollte man dann in den Vereinen forschen?
Die Arche-Noah-Erzählung geht zurück auf die »Geschichte des Deutschen Fußballsports« von Carl Kohepel, einem DFB-Funktionär, der vor, während und nach der Nazizeit führende Positionen bekleidete, nach 1945 war er Pressesprecher. Demnach war der Fußball in der NS-Zeit im Grunde neutral und sauber geblieben. 1954 entsprach das der allgemeinen Haltung im westdeutschen Nachkriegsstaat - und in der relativ abgeschotteten Verbandsöffentlichkeit hielt sich die Legende sehr lange.
Erst als sich in den 1980er und 1990er Jahren Historiker »von außen« und kritische Fans für die Verbandsgeschichte zu interessieren begannen, erschienen in der Bundesrepublik erste kritische Aufsätze. Doch Schwung kam erst 2000 mit Arthur Heinrichs politischer Geschichte des DFB in die Sache. 2003 rief Bernd Beyer mit einem biografischen Roman Walther Bensemann - deutsch-jüdischer Fußballpionier und Gründer des Magazins »Kicker« - in Erinnerung. Zugleich lenkte der Sammelband »Davidstern und Lederball« als erste große deutschsprachige Publikation zur jüdischen Seite der Fußballgeschichte den Blick auch auf die Vereine.
Auch hier hatten lange Zeit geschönte, oft intern entstandene Chroniken vorgeherrscht. Als Schulze-Marmeling und der Verlag »Die Werkstatt« in den 1990ern mit einer Reihe von Vereinsgeschichten begannen, hängte man die Latte dementsprechend niedrig: »Die Autoren wurden gebeten, sich bei den Jahren 1933 bis 1945 nicht damit zu begnügen, dass es da dunkel über Deutschland wurde, weshalb niemand wisse, was eigentlich passierte«, blickt er zurück. Die Ergebnisse waren »zunächst eher bescheiden« - aber »immerhin wurde über diese Zeit nicht mehr einfach hinweggegangen«.
2002 gab ein Buch über Borussia Dortmund dann den Auftakt einer genaueren Geschichtsschreibung - für die sich neben der 2001 gestarteten Ausstellungsreihe »Tatort Stadion« über rechtsradikale auf heutigen Tribünen auch die Herrenfußball-WM 2006 als zuträglich erwies, bei dem sich das Land weltoffen zeigen wollte. In diesen Kontexten erschienen Bücher über die NS-Zeit großer Vereine, etwa »Der ›Betze‹ unterm Hakenkreuz« über den 1. FC Kaiserslautern oder Publikationen zu Schalke und der SG Eintracht Frankfurt. Deren Beispiel zeigt aber auch, wie zäh das verlief: »Noch im vom Verein beauftragten Buch ›100 Jahre Eintracht Frankfurt‹ von 1999 reichten 39 Zeilen für die NS-Zeit«, sagt Matthias Thoma, Leiter des Vereinsmuseums. »Eigentlich erfährt man nur, dass am Vereinssitz ein Flakturm entstand und das Stadion bombardiert wurde.«
Von Opfer- zu Tätergeschichten
Thoma selbst korrigierte dieses Bild 2007 mit der Studie »Wir waren die Juddebubbe«. Tatsächlich wurden die Fußballer des bürgerlich-liberalen Vereins vor 1933 oft so gerufen, weil sie - als De-facto-Profis - bei der jüdischen Schuhfabrik J. & C. A. Schneider angestellt waren. Doch obwohl das auch nach 1945 noch bekannt war und Eintracht-Fans gelegentlich antisemitisch beschimpft wurden, hat der Verein nicht nur eine »Opfergeschichte« - wiewohl eine solche quasi aus dem Buchtitel hervorzugehen scheint.
Thomas Buch zeigte, wie der Verein gleichgeschaltet und jüdische Mitglieder herausgedrängt wurden, wie sich der Alltag gestaltete und die Hitlerjugend den Vereinssport übernahm. Dabei kam auch zur Sprache, wer im Verein das vorantrieb - etwa Rudolf Gramlich (1908-1988), einstiger Spieler, langjähriger Präsident und bis 2020 Ehrenpräsident. Dass Gramlich wohl von der »Arisierung« profitiert hat, dass er Mitglied eines Totenkopfregiments der Waffen-SS gewesen war: All das stand in Thomas Buch. Und doch konnte »Bild« 2018 im Umfeld der Eintracht noch für Aufsehen sorgen, indem das Blatt die Vergangenheit Gramlichs bei der Waffen-SS noch einmal aufgriff.
Dass die Motive dabei nicht nur hehr waren - der Artikel konterte den Präsidenten Peter Fischer, der sich gegen Rassismus, Antisemitismus und die AfD positioniert hatte -, ist das eine. Das andere ist, dass elf Jahre nach Thomas Buch das Wissen um Gramlich keine Konsequenzen hatte. Dies wurde nachgeholt, nachdem das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut die Studie »Vereinsführer« erstellt hatte, die Gramlichs Taten an der Vereinsspitze von 1938 bis 1942 untersuchte - wo er mit dem späteren Sportreporter der »Zeit«, Adolf Metzner, kooperierte. Diese Studie, so Thoma, lenkte den »Blick erstmals explizit auf die Verantwortlichen«.
Externe Aufarbeitung, die auch Täter betrachtet, statt von Loyalitäten geprägte Traditionspflege: Gut 75 Jahre danach wird das hoffentlich Standard im im Fußball. Auch der FC Bayern geht diesen Weg: Am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin bearbeitet derzeit ein Promovend das Projekt »Der FC Bayern München 1929 - 1949. Aufstieg und Niedergang eines Vereins im vergleichenden Kontext der Entwicklung des deutschen Fußballs«. Auf die Ergebnisse mag man gespannt sein. So gewiss wie der FC Bayern im Dritten Reich als »Judenklub« benachteiligt wurde und so sehr sich seine Fans heute mit dem jüdischen Präsidenten Kurt Landauer identifizieren, der den Verein von 1913 bis 1914, von 1919 bis 1933 und von 1947 bis 1951 leitete, so ungewiss ist, ob sich nicht auch dort Sachverhalte jenseits einer reinen »Opfergeschichte« auftun.
Im Programm der »Werkstatt« fällt auf, dass sich unter den Titeln à la »in der NS-Zeit« oder »unterm Hakenkreuz« keine Publikation über bedeutende Ostvereine findet. Das hat den Grund, dass die Vereine aus dem Osten, die heute in der 1. bis 3. Bundesliga spielen, erst in der DDR gegründet wurden - wo man an den im NS zerschlagenen Arbeitersport anknüpfte und sich der organisierte Sport jenseits des Fußballs etwa von Carl Diem schnell losgesagt hatte.
Dennoch gibt es auch im Osten erste Projekte, die sich mit Vorläufern der heutigen vereine befassen. Beim Fanprojekt des SV Babelsberg 03 etwa eine »Recherchegruppe Babelsberg 03 im Nationalsozialismus«: Sieben Interessierte im Alter von 15 bis Ende 20 Jahren suchen nach Leerstellen in der Vereinschronik. Der jetzige Viertligist bekam 1938 seinen heutigen Namen, weil die Nazis Nowawes in Babelsberg umtauften, was »deutscher« klang. In der DDR kickte die BSG Motor Babelsberg im Liebknecht-Stadion, nach der Wende wieder als Babelsberg 03.
Vertane Chancen
Viertligaspiele bestreitet heute auch die wieder neu gegründete BSG Chemie Leipzig im Alfred-Kunze-Sportpark (AKS). Im Rahmen des 100-jährigen Jubiläums der Spielstätte des DDR-Traditionsklubs im vergangenen Jahr entsteht nun das Buch »100 Jahre AKS« Projektleiter Alexander Mennicke promoviert in Kulturwissenschaft und ist Vorsänger bei Spielen. Er sieht das Stadion als »sozio-kulturellen Raum«, in dem sich die Geschichte des Arbeiterviertels Leutzsch spiegelt. Nach dem Verbot kommunistischer und sozialdemokratischer Vereine 1933 wurde dort zwei Jahre lang nicht gespielt. Dann trafen sich die Arbeitersportler unter neuem Namen. Doch hat auch diese Geschichte Brüche. In der DDR hieß das Stadion nach Georg Schwarz, einem von den Nazis ermordeten Politiker. Der Fußballer Alfred Kunze, Namenspatron seit 1992, war Erfolgstrainer des Vereins und ein wichtiger Fußballtheoretiker der DDR, aber auch in der NSDAP.
Eine »Geschichte des Fußballs im NS« als Synopse aus Verbands- und Vereinsgeschichten mag noch fern liegen. Vielleicht aber zeichnet sich ab, dass das Bild von der »Gleichschaltung« auch hier nicht recht passt. Viele Vereinsgeschichten zeigen, dass Hass und Ausgrenzung nicht nur - quasi unausweichlich - »von oben« kamen, sondern auch aus einem Eifern von »unten«, das eben nie ganz alternativlos war. In Frankfurt spielte immerhin noch 1937 der jüdische Fußballer Julius Lehmann in der dritten Mannschaft, 1940 grüßten Bayern-Spieler ihren nach Zürich geflohenen Exilpräsidenten demonstrativ auf der Tribüne: Das eigentlich Bittere an der Geschichte des NS ist, dass in der Gesellschaft durchaus relativ abgesonderte Sozialräume bestanden, in denen sich der Durchgriff der Nazis zumindest hätte abmildern lassen - wenn sich mehr Bremser gefunden hätten. Im Allgemeinen war der Sport so wenig wie der Fußball im Besonderen eine »Arche«, aber eben auch ein solcher Raum vertaner Chancen - und seien sie noch so klein gewesen: Womöglich hätte es mehr kleine Beiboote geben können.
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