Stabile Netzwerke

Warum im Lübcke-Prozess wenig Neues über die regionale Neonazi-Szene bekannt wurde.

  • Joachim F. Tornau
  • Lesedauer: 3 Min.

Seine Verteidiger bemühten sich nach Kräften, Stephan Ernst zum auskunftbereiten Neonazi-Aussteiger zu stilisieren - und trugen dafür im Plädoyer noch einmal dick auf. Wie der Lübcke-Attentäter im Prozess über die rechtsextreme Szene in Nordhessen ausgepackt habe, das sei »ungewöhnlich und in dieser Hinsicht wohl einmalig«, verkündete Rechtsanwalt Mustafa Kaplan und fragte: »Wann hat es jemals etwas Vergleichbares gegeben? Was hätte Herr Ernst denn noch tun sollen?« Die Fragen sollten rhetorisch sein, man kann sie trotzdem beantworten: Er hätte wirkliche Einblicke in die braunen Netzwerke von Kassel und Umgebung geben können, hätte mehr verraten können als das, was ohnehin bekannt ist. Stattdessen spielte er seine eigene Rolle nach Kräften herunter, indem er sich als ideologisch ungefestigten Mitläufer darstellte, und mauerte immer dann, wenn es spannend wurde.

Was er über den Mordanschlag auf einen antifaschistisch engagierten Lehrer wisse, der 2003 nur haarscharf von einer Kugel verfehlt wurde? Nichts, sagte Ernst. Nur dass er selbst nichts damit zu tun habe. Warum er im selben Jahr mit einem Kameraden versucht haben soll, in einen Steinbruch einzubrechen, wo Sprengstoff gelagert wurde? »Da war gar nichts. Wir haben da mal vor dem Tor gestanden.« Mit wem er ebenfalls in den Nullerjahren die Kasseler jüdische Gemeinde ausgespäht und rund 60 Anti-Antifa-Dossiers über politische Gegnerinnen und Gegner angelegt habe? Das wolle er nicht sagen, denn die Kameraden von damals gingen jetzt »normalen Berufen« nach.

Vollständig endete die stets beteuerte Bereitschaft, alle Fragen zu beantworten, wenn es um den rassistischen Messerangriff auf den irakischen Geflüchteten Ahmed I. ging. Zu diesem zweiten Tatvorwurf tat Stephan Ernst genau das, was seine Verteidiger ansonsten dem Mitangeklagten Markus H. vorwarfen: Er schwieg.

Dass der Prozess vor dem Frankfurter Oberlandesgericht so wenig Neues über die rechtsextreme Szene der Region zutage gefördert hat, kann aber nicht nur dem Hauptangeklagten angekreidet werden. Es ist sein Recht, vor Gericht nur das zu sagen, was er sagen möchte. Doch auch die Ermittlungen interessierten sich nur am Rande für die neonazistischen Netzwerke, in denen sich beide Angeklagte in Vergangenheit und Gegenwart bewegt haben.

Die Kasseler Szene zeichnet sich durch eine erstaunlich hohe personelle Kontinuität aus. Als Ernst vor Gericht gefragt wurde, wer seine ersten Wegbegleiter in Kassel waren, nannte er außer Markus H. noch vier weitere Männer. Bis auf einen leben sie nach wie vor in Nordhessen, nach wie vor sind sie bekennende Rechtsextreme. Vor Gericht aber musste keiner von ihnen aussagen. Als einziger Zeuge, der etwas über die Szene-Einbindung der beiden Angeklagten hätte sagen können, wurde ein gemeinsamer Bekannter vernommen, ein langjähriger rechtsextremer Aktivist. Und der kam damit durch, sich an kaum etwas erinnern zu können.

Ein genauerer Blick auf die nordhessische Neonazi-Szene hätte zeigen können, wie sehr diese Szene seit jeher durch Anti-Antifa-Ausspähen und eine besondere Bereitschaft zur Gewalt geprägt war. Und dass der Anschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten, in dem beides gipfelte, damit keineswegs so aus dem Off kam, wie viele glauben wollen. Doch diese Mühe mochten sich offensichtlich weder die Ermittler machen noch das Gericht.

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