Hauptsache, es wird diskutiert

Die Ärmsten werden in Corona-Zeiten mit faden Statements abgespeist, meint Leo Fischer

Anlässlich der neuen Corona-Beschlüsse der Länder, die medizinische Masken in Geschäften und im öffentlichen Nahverkehr zur Vorschrift machen, habe ich mir mal einen Spaß gemacht und zusammengerechnet, was ich in dieser beispiellosen historischen Krise eigentlich an offizieller Post erhalten habe. Damit meine ich: von Ämtern und Einrichtungen der Wohlfahrt, in deren Interesse eine möglichst breite Kenntnis der medizinischen Sachlage liegen müsste.

Ich bin auf zwei Briefe gekommen: Einmal war es der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann, der mich im Herbst in einem Brief zusammen mit allen anderen Bürger*innen mahnte, sich doch bitte an die Corona-Regeln zu halten, damit wir bald wieder herrlichen, herrlichen Apfelwein zusammen trinken können. Das zweite war ein Schreiben meiner Krankenkasse, die mit Jahresbeginn bekannt gab, u.a. auch coronabedingt ihren Beitrag zu erhöhen. Dies war auch das einzige corona-bezogene Schreiben dieser Kasse. Sonst habe ich von offizieller Seite nichts erhalten, gar nichts.

Nun sollen sich Menschen für die Geschäfte ihres täglichen Bedarfs mit medizinischen Schutzmasken ausstatten, die nur für die einmalige und kurze Verwendung gedacht sind. Konnten sich Geringverdiener und Sozialhilfeempfänger mit einem Satz waschbarer Stoffmasken noch einigermaßen selbst versorgen, hat dieser Teil der Bevölkerung, für den schon der Kauf eines Straßenbahntickets eine wohlüberlegte Anschaffung sein muss, nun einen ganzen neuen Posten im monatlichen Budget. Die Krankenkassen, die gerade ihren Beitrag erhöht haben, übernehmen dafür außerhalb besonderer Gefährdung keine Kosten. Auch der Hartz-IV-Satz wird nicht angepasst.

Sollten die Einschränkungen länger anhalten, sagte Angela Merkel, müsse man »natürlich auch darüber nachdenken, ob wir an der Stelle noch mal helfen müssen«; im Gespräch sei das aber noch nicht: »Wenn das jetzt über Wochen geht mit der Medizinische-Masken-Pflicht wird das sicherlich ein Thema auch der Diskussion bleiben.« Stark! Die Diskussion geht weiter! Auch Arbeitsminister Heil will zumindest darüber nachdenken, währenddessen das Portal »Gegen Hartz IV« den Empfänger*innen rät, einen Mehrbedarfsantrag zu stellen. Dieser werde zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelehnt, dagegen könne aber immerhin geklagt werden.

Gratulation: Diejenigen, die ohnehin schon in entwürdigenden Behördengängen rechtfertigen müssen, warum sie der Gesellschaft zur Last fallen, dürfen für die nächste Zeit das Essen einstellen, um medizinisches Material für unabsehbare Zeit auf Vorrat zu kaufen. Alternativ können sie darauf warten, dass Arbeitsminister und Kanzlerin ihre Diskussion weiterführen, oder einen Prozess gegen eine Behörde anstrengen, die sie danach sicher nicht freundlicher anfassen wird.

In derselben Woche erklären die Arbeitgeberverbände, dass ein Lockdown der Betriebe für sie selbstverständlich nicht in Frage komme. Die Leute sollen sich weiterhin in die Logistikhöllen schleppen, die sich in fanatischer Effizienzsteigerung jeden Spielraum für Krisen wegrationalisiert haben. Auch in dieser Krise werden die Verluste sozialisiert, die Gewinne privatisiert. Keine Sozialpartner, keine Politik: Die Verbraucher sollen es wieder richten. Sie sollen durch Einkauf nicht nur das Klima und die Kaffeebauern in Guatemala retten, sie sollen sich mit Risiko-Apps ausstatten, Berge von medizinischen Artikeln kaufen und privat Prozesse führen gegen Ämter - um das hirnlose »Weiter so« von Unternehmen zu sichern, die inzwischen offen zugeben, dass der Schutz der Gesundheit nicht sehr viel mehr interessiert als bei Grubenarbeitern im 19. Jahrhundert.

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