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Nawalny-Proteste heizen Russland ein
Zehntausende Menschen gehen bei bitterkalten Temperaturen im ganzen Land auf die Straßen
Am Samstag ertönte in ganz Russland die Forderung nach der Freilassung von Aleksej Nawalny. Der direkt nach seiner Rückkehr aus Deutschland festgenommene rechtsliberale Oppositionspolitiker hatte für den 23. Januar zu Protestaktionen aufgerufen. In über 100 Städten folgten Menschen seiner Aufforderung und viele Orte vermeldeten sogar die größten Kundgebungen der letzten Jahre. Allein in Moskau zählte die Nachrichtenagentur Reuters bis zu 40 000 Teilnehmende, während die Polizei von 4000 sprach. Selbst in Jakutsk ließen sich aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger bei bitterkalten minus 50 Grad nicht davon abhalten, durch die Straßen zu ziehen.
Genehmigt waren die Veranstaltungen nicht, dafür hätte spätestens zehn Tage vorher ein Antrag bei den zuständigen Behörden eingehen müssen. Die aber reagieren auf derlei Anfragen ohnehin meist mit einer Ablehnung - auch schon vor Beginn der Corona-Pandemie. Folglich war mit polizeilichen Gegenmaßnahmen zu rechnen. OVD-Info, ein selbstorganisierter Ermittlungsausschuss, der Informationen über Festgenommene sammelt und juristischen Beistand leistet, vermeldete landesweit rekordverdächtige 3521 Festnahmen, davon in Moskau knapp 1400 und über 500 in St. Petersburg. Im Vorfeld erhielten etliche dem Staatsschutz bekannte Kremlkritiker Verwarnungen und Koordinatoren von Nawalnys Stäben kamen prophylaktisch in Polizeigewahrsam. Seine Pressesprecherin Kira Jarmysch wurde zu neun Tagen Administrativhaft verdonnert.
In Moskau setzten erste Festnahmen am zentralen Puschkin-Platz noch vor Beginn der eigentlichen Protestaktion ein. Trotzdem strömten von allen Seiten immer mehr Leute heran, in der ganzen Umgebung herrschte dichtes Gedränge. Viele schienen dem Motto Nawalnys Ausdruck verleihen zu wollen, sich nicht zu fürchten - nicht vor der massiven polizeilichen Übermacht vor Ort und nicht vor Wladimir Putin. »Ich habe keine Angst vor dem Bunker-Opa« stand auf einem der wenigen Plakate. Sprechchöre richteten sich insbesondere gegen den Präsidenten und seinen vom Kreml notorisch geleugneten Reichtum. Erst vor wenigen Tagen präsentierte Nawalnys Fonds für Antikorruptionsbekämpfung ein fast zweistündiges Video, in dem Putins Werdegang als Profiteur des von ihm später bedauerten Zerfalls der Sowjetunion geschildert wird und auf ausgiebigen Recherchen basierenden Innenansichten seines riesigen, von der Außenwelt praktisch komplett abgeschotteten Palastes samt unterirdischem Eishockeyfeld zeigt.
Nach einer ruhigeren Phase begannen OMON-Einsatzkräfte mit der Räumung des Platzes. Ein Großteil der Protestierenden demonstrierte weiter und marschierte Richtung Trubnaja-Platz. Auf dem Boulevard vor dem Moskauer Zirkus griffen Uniformierte massenweise wahllos Personen auf und schleppten sie in die bereitstehenden Einsatzwagen. Es flogen Schneebälle gegen die behelmten Polizeikräfte, diese prügelten mit Schlagstöcken wild auf Demonstranten ein, selbst in Situationen, wo die Betroffenen dem hilflos ausgeliefert waren und keine Ausweichmöglichkeiten hatten. In St. Petersburg trat ein Polizist einer 54-jährigen Frau in den Bauch, die daraufhin mit dem Hinterkopf auf den Asphalt knallte und anschließend auf die Intensivstation eines Krankenhaus eingeliefert wurde. Zahlreiche Protestteilnehmer trugen blutenden Wunden davon und selbst Medienvertreter waren der Polizeigewalt schutzlos ausgesetzt. Gegen einen Journalisten kam sogar ein Elektroschock-Gerät zum Einsatz.
Anders als in Minsk setzt die russische Polizei bislang weder Blendgranaten noch Schusswaffen ein, stattdessen belässt sie es bei grober physischer Gewalt. Aber das könnte sich durchaus ändern. Wo in der Vergangenheit, wie beispielsweise bei den Moskauer Protesten vor den Wahlen zum Stadtparlament 2019 der Wurf eines Papierbechers als Straftatbestand ausreichte, können sich die Strafverfolgungsbehörden nun auf wesentlich handfestere Argumentationen stützen. Tatsächlich ließ sich am Samstag tatkräftiger Widerstand beobachten, wie es für russische Verhältnisse bei politischen Aktionen extrem ungewöhnlich ist. Es kam nicht nur zu einzelnen Schlagabtauschen zwischen Protestierenden und Polizeikräften, sondern an einer Stelle bildete sich eine Kette junger Männer, die mit kurzem Anlauf versuchte, die vor ihnen stehende Polizeifront zu durchbrechen. Außerdem kam ein schwarzer Dienstwagen, der vermutlich dem Inlandsgeheimnis FSB gehört, zu Schaden. Etwa 40 Polizisten seien leicht verletzt worden.
Fast ein Dutzend Strafermittlungen sind in mehreren Städten bereits angelaufen. Gewalt gegen Polizisten steht dabei im Vordergrund, aber es geht auch um Vorwürfe, Minderjährige gezielt zur Teilnahme aufgerufen zu haben, unter anderem im sozialen Netzwerk TikTok. Veröffentlichte Fotos, Videoaufnahmen und die in Moskau mittlerweile flächendeckend installierte Gesichtserkennung erleichtern den Ermittlern die Arbeit. Ob die Wut über die Verhältnisse bei Kremlkritikern ausreicht, um trotz steigender Risiken weiterzumachen, zeigt sich schon am kommenden Wochenende. Dann sind weitere Proteste angekündigt.
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